(Loewe-Verlag 2024, 447 Seiten)
Ursula Poznanski muss man wohl nicht mehr vorstellen, seit sie mit „Erebos“ im Jugendbuchbereich bekannt geworden ist. Was ich an ihren Büchern mag, ist, dass die österreichische Autorin immer wieder aktuelle Themen aufgreift und sie mit einem spannenden Plot versieht. In „Cryptos“, dem letzten Buch, das ich von ihr gelesen hatte und das man durchaus als Science-Fiction-Roman bezeichnen kann, ging es um virtuelle Welten. Auch der neue Roman „Scandor“ greift ein technisches Thema auf: Es geht um einen treffsicheren Lügendetektor, der allerdings noch mehr kann.
Inhalt:
Philipp und Tessa machen bei einem ziemlich abstrusen Wettbewerb mit. Schon die Einladung war sehr geheimnisvoll: Einige Menschen haben eine Münze gefunden, auf der man sich über einen QR-Code zu dem Wettbewerb anmelden konnte. Am Ende waren 100 Personen ausgewählt worden, die nun gegeneinander antreten. Aufgabe ist es, nicht zu lügen – wer lügt oder eine Frage unbeantwortet lässt, wird ausgeschlossen und verpflichtet sich vertraglich, sich seiner schlimmsten Angst zu stellen. Das soll sicherstellen, dass alle Teilnehmer/innen so lange wie möglich dabeibleiben. Der Person, die am Ende übrigbleibt, winken als Belohnung 5 Millionen Euro.
Bevor es losgeht, wird allen Teilnehmer/inne/n am Oberarm ein geheimnisvolles Gerät angebracht, das sie überwacht und ihnen während des Wettbewerbs Mitteilungen senden kann. Scandor, wie das Gerät heißt, ist ein absolut zuverlässiger Lügendetektor. Wird eine Lüge entdeckt, sendet es einen deutlich spürbaren Kälteimpuls aus. Als Teilnehmer/in ist man dann ausgeschieden.
Zwei der Teilnehmenden sind Philipp und Tessa, die sich am Vorabend bei der Eröffnungsgala kurz kennenlernen. Am Tag darauf geht es los, und es dauert nicht lange, da scheiden bereits die ersten Teilnehmer/innen aus. Fies am Wettbewerb ist, dass sich Teilnehmer/innen auch zusammentun, andere auch gezielt mit kniffligen Fragen zum Lügen bringen dürfen. Ansonsten gilt für alle, dass ihr Leben normal weitergeht, und das macht vieles kompliziert. Tessa zum Beispiel arbeitet in einer Bar. Als ein übergriffiger Gast ihr unangenehme Fragen stellt, die sie wegen Scandor wahrheitsgemäß beantworten muss, beschwert sich dieser schließlich bei ihrem Chef; sie wird abgemahnt. Auch Philipp, der in einem Jeans-Laden jobbt, wird wegen Äußerungen Kunden gegenüber von seiner Chefin gerügt. Je länger der Wettbewerb dauert, desto nervöser werden Philipp und Tessa …
Bewertung:
Die Idee mit dem Wahrheitswettbewerb war mir schon beim Durchschauen der Verlagsvorschau von Loewe vor ein paar Monaten aufgefallen und hat sofort meine Neugierde geweckt; und das Buch hat mich diesbezüglich absolut nicht enttäuscht. Das liegt auch daran, dass Ursula Poznanski es sich nicht nehmen lässt, die Geschichte in ein immer wieder beklemmendes Szenario zu packen. Das wird deutlich, wenn Philipp und Tessa, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, schon in den Eingangskapiteln unter fast bedrohlich wirkenden Umständen das Scandor-Gerät am Arm angebracht wird. Was den Wettbewerb später zusätzlich erschwert, ist, dass die Teilnehmenden absolut nichts über Scandor preisgeben dürfen.
Beide, Philipp wie Tessa, sind nicht auf ganz normalem Weg zu der Einladungsmünze gekommen: Philipp hat sie von Raffaela, einem Mädchen, in das er verliebt ist, bekommen, weil sie glaubt, dass sie selbst nicht für den Wettbewerb geeignet sei. Tessa dagegen hat die Münze aus dem Geldbeutel ihres Onkels Henrik, den sie verachtet, geklaut – als Rache dafür, dass er sich ihren Eltern gegenüber seit vielen Jahren so fies verhält.
Die Story ist in eine ziemlich komplexe und verstrickte Hintergrundgeschichte eingebettet. Onkel Henrik wie auch Raffaela sind Figuren, die dabei eine bedeutsame Rolle spielen, aber das erfährt man erst recht spät im Buch. „Scandor“ erzählt eben nicht nur von einem Wahrheitswettbewerb, sondern hinter allem steht ein perfides und ernstes Spiel. Philipp und Tessa ahnen irgendwann einiges, aber tappen wie man selbst als Leser/in lange im Dunkeln. Letztendlich sind es die letzten 3 Kapitel, in denen man die Zusammenhänge und damit die Auflösung erfährt. „Scandor“ liefert damit genau das, was man von einem Thriller erwartet; vorher wird man lange mit Andeutungen hier und da sehr geschickt auf die Fährte gesetzt.
Was ich an dem Buch trotz aller Spannung, die es in Bezug auf den Plot bietet, besonders beeindruckend fand, war die Grundidee mit dem Lügen. Es gibt psychologische Theorien, die sagen, dass wir alle am Tag dutzende Male lügen, ja, dass man ohne Lügen gar nicht gut in Gemeinschaft leben könnte. Als Lüge zählt letztendlich ja auch schon (wie im Buch), wenn man auf die harmlose Begrüßungsfrage „Wie geht’s?“ mal eben „gut“ antwortet, obwohl man sich ganz anders fühlt.
Als Leser/in man im Buch schon bald mit, wie anstrengend es ist, immer die Wahrheit sagen und jedes Wort abwägen zu müssen. Wenn jemand die passende Frage stellt, hat man zum Beispiel keine Chance, etwas für sich zu behalten. Mit Geheimnissen ist da Schluss … Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sowohl Philipp wie auch Tessa im Laufe des Wettbewerbs zunehmend an Entspanntheit verlieren, weil sie ständig auf der Hut sein müssen, sobald sie eine Frage gestellt bekommen oder sich zu etwas äußern. Eine kure Unaufmerksamkeit, und schon wäre man beim Wettbewerb ausgeschieden. Man mag das Gedankenspiel gerne auf sich übertragen (ich habe das beim Lesen ständig getan): Wie wäre es, wenn man wirklich nicht mal mehr kleine Notlügen verwenden dürfte?
Die Hauptfiguren im Buch sind für einen Jugendroman gut gewählt. Philipp und Tessa stehen beide noch nicht so ganz im Leben, halten sich mit Jobs über Wasser, haben beide nicht ganz unkomplizierte Familienverhältnisse. Jenseits der Gemeinsamkeiten sind sie in vielem aber auch unterschiedlich, und sympathisch sind sie sich nicht von Beginn an nicht unbedingt … Dass sich das ändert, gehört zu den etwas erwartbareren Anteilen im Buch, wobei auf die Beziehung zwischen beiden so einige Fallstricke warten. Was die weitern Figuren im Buch angeht, hätte ich mir hier und da noch etwas mehr Tiefgang gewünscht – gerade abseits von Tessa und Philipp sind manche Figuren doch recht schematisch angelegt.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Von den Büchern, die ich bisher von Ursula Poznanski gelesen habe, ist „Scandor“ vielleicht das, was mir am besten gefallen hat. Das liegt vor allem an der psychologisch interessanten Idee, die Themen Wahrheit und Lügen in einen spannenden Plot zu packen. Wie sich Philipp und Tessa bemühen (müssen), immer die Wahrheit zu sagen, welche aberwitzigen Folgen und Auswirkungen das hat, wird einem sehr anschaulich vor Augen geführt – und mit einigen gewitzten Ideen (die Teilnehmenden müssen sich auch Aufgaben stellen) wird das Ganze im Buch immer wieder auf die Spitze getrieben.
Dass alles am Ende zu einem ziemlich bizarren Familiengeheimnis führt, das hinter allem steht, erwartet man lange nicht. Die Erklärung für die Durchführung des Wettbewerbs, die man am Ende bekommt, ist sachlogisch nachvollziehbar, aber wirkt zugleich ein klein wenig gekünstelt – es ist schon etwas weit hergeholt, wenn dafür eigenes ein so komplexes Gerät wie Scandor entwickelt wird. Doch letztendlich sollte man sich daran nicht stören lassen (Bücher dürfen so was durchaus!) und bekommt mit dem Roman ein ganz besonderes Gedankenexperiment präsentiert, das die knapp 450 Seiten zu einer ganz und gar nicht langweiligen Leseerfahrung machen.
(Ulf Cronenberg, 28.11.2024)