(dtv 2025, 200 Seiten)
Die amerikanische Autorin Alison McGhee hat sich mit ihren letzten beiden Büchern bei mir ins Gedächtnis geschrieben. Sowohl „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ als auch „Nachrichten von Micah“ erzählten eine außergewöhnliche Geschichte, und das erstgenannte Buch war im Jahr 2022 sogar von der Kritiker- und der Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert worden, was nicht allzu häufig vorkommt. Leider ging das Buch dann allerdings in beiden Sparten leer aus und wurde nicht prämiert.
Inhalt:
In der Straße, in der Ayla lebt, wurde für jedes neu geborene Kind ein eigener Baum gepflanzt, und für Ayla ist es eine Birke. In dem Baum verbringt das Mädchen einige Zeit, vor allem auch, seit sie darum trauert, dass ihre beste Freundin Kiri nicht mehr da ist. Es macht Ayla verrückt, dass Kiri so weit weg ist, und sie hofft darauf, dass ihre Freundin an deren Geburtstag, der bald ist, wieder zurück sein wird.
Eines Tages hängt plötzlich ein altes Wählscheiben-Telefon in Aylas Birke – das Mädchen hat keine Ahnung, wie es da hingekommen ist. Auch sonst weiß niemand etwas darüber. Das Telefon bemerken auch andere Menschen, und sie kommen in den nächsten Tagen manchmal vorbei, um darauf Menschen, die ihnen nahestanden und die gestorben sind, anzurufen. Ayla selbst will das Telefon allerdings nicht benutzen, um mit Kiri zu sprechen – sie hofft ja nach wie vor darauf, dass Kiri bald wieder da ist.
Bewertung:
„Das Telefon in der Birke“ (Übersetzung: Birgitt Kollmann; amerikanischer Originaltitel: „Telephone of the Tree“) ist wieder ein besonderes Buch der amerikanischen Autorin Alison McGhee. Das fällt einem schon auf, wenn man das Buch einfach mal durchblättert. Einige der Seiten sind verziert mit den Ästen von zwei Baumarten (sicher einem Birkenast, der für Ayla steht, und dem Ast einer Seidenkiefer, die Kiris Geburtsbaum ist), andere haben kleine Vignetten von Blättern oder einem Telefon. Der Text beginnt außerdem nie ganz oben auf der Seite, sondern die Seiten haben einen oberen Blattrand, der gut 6 cm hoch ist.
Es sind kleine Episoden, die sich auf jeder Seite befinden, die für sich stehen, aber inhaltlich miteinander verknüpft sind – manchmal bestehen sie nur aus ein paar Zeilen, im Durchschnitt sind sie eine halbe Seite lang. Diese Komposition ist nicht ganz so kunstvoll wie bei „Wie man eine Raumkapsel verlässt“, wo auf jeder Seite genau 100 Wörter standen, aber sie stellt eine sehr verdichtete Art des Erzählens dar. An vielen Stellen werden auch typografisch Akzente gesetzt, wenn ab und zu Wörter wie in einem Gedicht eingerückt oder grafisch angeordnet sind.
In die Geschichte hinein findet man schnell: Ayla leidet darunter, dass ihre beste Freundin Kiri weg ist, mit der sie sonst jeden Tag verbracht hat. Wo Kiri ist, erfährt man nicht, es heißt nur „sehr weit weg“; und auch wenn ich da etwas spoilern muss, es dauert nicht lang, bis man natürlich ahnt, dass Kiri gestorben ist. Ayla will das allerdings nicht wahrhaben; und da das Buch konsequent aus Aylas Sicht erzählt, bekommt man die Bestätigung erst recht spät. „Das Telefon in der Birke“ handelt davon, wie ein Mädchen trauert, wie es mit dem Tod der besten Freundin umgeht.
Dass Ayla den Tod von Kiri nicht wahrhaben will, ist etwas ungewöhnlich. Interessant finde ich dabei aber vor allem auch, wie die Menschen um Ayla darauf reagieren. Es gibt in der Straße Nachbarn, die ihr Verhalten seltsam finden, doch Aylas Opa und ihre Eltern haben es akzeptiert, drängen nicht, dass das Mädchen sich den Tod der Freundin eingestehen muss, sondern vertrauen darauf, dass Ayla sich dem irgendwann stellen wird. Sie werde wissen, wann sie dafür bereit ist.
Ein skurriler, ja, fast etwas mystischer Moment ist, als dann plötzlich das Telefon (ein altes mit Wählscheibe) in der Birke hängt. Ayla kann sich keinen Reim darauf machen, wo es herkommt; aber auf einmal schauen Menschen vorbei – und warum auch immer: Sie schnappen sich das Telefon und sprechen mit verstorbenen Liebsten, als gäbe es eine Telefonleitung ins Jenseits. Während manche offen, so dass Ayla es mitbekommt, telefonieren, tun es andere heimlich nachts. Und ich muss schon sagen, die Idee mit dem Telefon ist einfach genial, denn so bekommt man als Leser/in mit, dass viele Menschen trauern – jeder auf seine ganz eigene Art und Weise.
Ansonsten zieht sich das Motiv der Bäume durch das Kinderbuch. Ayla und Kiri wollten sich immer in Bäume verwandeln können; dass für jeden geborenen Menschen in der Straße ein Baum gepflanzt wird, ist ebenfalls Teil des Motivs; und Ayla sinniert mehrmals darüber, dass Bäume über ihre Wurzeln auch über weite Entfernungen miteinander kommunizieren können. Die Bäume – ein passendes Motiv fürs Buch – stehen für vieles: unter anderem fürs Verwurzeltsein mit der Erde, für das Vernetzsein alles Lebendigen oder für das Leben an sich.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Alison McGhee hat mit „Das Telefon in der Birke“ ein Buch geschrieben, das Leserinnen und Lesern ab 11 Jahren die Trauer um einen geliebten Menschen vielschichtig nahebringt. Man fühlt als Leser/in mit Ayla mit, auch wenn man das lange Leugnen von Kiris Tods vielleicht nicht ganz nachvollziehen kann. Es ist jedenfalls bemerkenswert, wie gut sich Alison McGhee in die Gedanken und Gefühle ihrer Hauptfigur hineinversetzen kann. Das Buch ist, finde ich, jedenfalls nicht nur was für junge Leser/innen, sondern durchaus auch für Erwachsene.
In der Mitte hat das Buch vielleicht ein paar kleinere Längen; aber ansonsten stimmt alles: von der besonderen Aufmachung, über die Motivideen, die dem Thema Trauer Tiefe geben, bis hin zu den sehr authentisch wirkenden Figuren. „Das Telefon in der Birke“ ist irgendwie ein magisches Buch, wenn man sich darauf einlassen kann, und es ist ein tröstliches Buch, weil es neben all der Trauer auch vermittelt, dass wir alle wie die Wurzeln von Bäumen als Menschen miteinander verbunden sein können – auch über den Tod hinaus.
(Ulf Cronenberg, 12.03.2025)
P. S.: Alle Figurennamen im Buch gehen auf Baumarten zurück, wird am Ende verraten: Ayla ist z. B. im Hebräischen die Eiche, Kiri der Blauglockenbaum.
Entdecke mehr von Jugendbuchtipps.de
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.