(Beltz & Gelberg 2025, 207 Seiten)
Ist es schon wieder zwei Jahre her, dass ein Buch mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet worden ist? 2023 war das prämierte Buch David Blums „Kollektorgang“ gewesen, zwei Jahre davor Juliane Pickels „Krummer Hund“ – beides durchaus interessante Bücher, die ich als ungewöhnlich bezeichnen würde. Tobias Wagner ist der nächste Autor, der ausgezeichnet wurde, und als Belohnung winkt ja immer die Veröffentlichung des Manuskripts im Beltz&Gelberg-Verlag. Der Titel von Tobias Wagners Roman ist jedenfalls schon mal auffällig: wegen des englischen Worts im Verbund mit dem deutschen Ortsnamen.
Inhalt:
Leo ist 15 Jahre alt und sein Leben ganz schön kompliziert. Seine Mutter ist schon vor einigen Jahren an Krebs gestorben, Leo lebt deswegen nur mit seinem Vater, der Lehrer ist, zusammen. Doch Leos Vater verhält sich schon seit einiger Zeit seltsam, vergisst ständig Dinge, verschwindet einfach, ohne Leo Bescheid zu geben. Schon länger ist der Vater krankgeschrieben, und die Diagnose des Arztes lautet Demenz.
Eines Tages ist Leos Vater wieder einfach untergetaucht; Leo ist beunruhigt. Doch dann meldet sich Tante Lisa, dass er bei ihr sei, dort erst mal einige Zeit bleiben würde. Als Leo das seinem besten Freund Henri erzählt, schmiedet dieser gleich Pläne mit Leo: Er will, als cineastisch Begeisterterer mit seiner hochwertigen Filmausrüstung und mit Leo unbedingt einen kurzen Film drehen, und dieser könne doch drei Tage später am Freitag auf einer Party in Leos Wohnung vorgeführt werden.
Leo weiß nicht so recht, was er davon halten soll: Zum einen hält er das Filmprojekt in der Kürze der Zeit nicht für realisierbar, außerdem zweifelt er angesichts seiner Rolle als Hauptdarsteller, die er einnehmen soll; zum anderen kann er sich nicht vorstellen, dass er eine Party schmeißen soll. Doch Henri ist so begeistert von seiner Idee, dass Leo schließlich doch einwilligt.
Bewertung:
Wenn man den Titel von Tobias Wagners Debütroman liest, fragt man sich ja schon erst mal, worum es in dem Buch gehen könnte. Wer denkt, dass man hier einen Krimi oder Thriller vor sich hat, täuscht sich. Es gibt in dem Buch keinen „echten“ Tod. Nein, „Death in Brachstedt“, so heiß der Kurzfilm, den Leo und Henri drehen, und darin gibt es immerhin einen Mord …
Das Buch handelt ansonsten vom Leben eines 15-Jährigen, der sich wegen seines demenzerkrankten Vaters in einer Ausnahmesituation befindet. Leo macht sich große Sorgen um seinen Vater, weil dieser nichts mehr auf die Reihe bekommt, immer wieder einfach verschwindet … Und leider spricht sein Vater nicht wirklich mit ihm über seine Erkrankung; dabei wäre ja zu planen, wie das Leben der beiden weitergehen soll, wenn die Demenz weiter fortschreitet.
Für Leo gibt es zwei Personen, die ihm Halt geben: seine Tante Lisa, die sich auch immer wieder um seinen Vater kümmert, und Henri, seinen besten Freund. Henri ist weniger jemand, der zuhört und mit dem Leo seine Sorgen teilen kann; es kann schon vorkommen, dass Leo etwas erzählt und Henri darauf mit irgendwelchen filmischen Ausführungen antwortet. Henri tut Leo aber vielleicht genau deswegen gut, weil er ihn durch seines Film-Begeisterung von seiner schwierigen Lebenssituation ablenkt, so dass Leo auch mal seine Sorgen hinter sich lassen kann. Die Dialoge zwischen den beiden sind durch dieses Aneinandervorbeireden manchmal allerdings etwas skurril.
Das Entstehen ihres Kurzfilms bestimmt die Mitte des Jugendromans, wenn die beiden bei Henris Onkel Falco in dessen in die Jahre gekommenen Hotel Szene für Szene drehen. Henris Besessenheit für ihr Vorhaben trifft auch beim Filmdreh auf Leos Zweifel und Kritik; am Ende setzt sich Henri aber eigentlich immer durch. Die Einzelszenen, die die beiden drehen, werden im Buch beschrieben, aber wovon der Film letztendlich handelt, erfährt man erst später, als er vorgeführt wird.
„Death in Brachstedt“ ist in Teilen ein etwas sperriger Jugendroman – neben den Dialogen vor allem auch in Bezug auf die Geschehnisse im Buch. Das Buch hangelt sich in seinen eher kurzen Kapiteln von Überschrift zu Überschrift und setzt dabei ungewöhnliche Schwerpunkte, wenn Kapitel – um zwei Beispiele zu nennen – mit „Alexander Kluge“ (einem bekannten Film- und Medienphilosophen) oder „DB-Sicherheit“ überschrieben sind. Gerade im zweitgenannten Kapitel bekommt man eine abgedrehte Episode präsentiert; das Erlebnis, das hier geschildert wird, ist so schräg, dass man sich fragt, welche Bedeutung es in dem Buch haben soll. Solche Stellen gibt es mehrmals im Roman. Manchmal wirkt es fast so, als wäre das Buch aus verschiedenen Kurzgeschichten zusammengesetzt worden.
Manchmal haben mich diese seltsamen Ausflüge ins Absurde gestört, unterm Strich entsteht dadurch aber eine eigensinnige Mischung, die das Chaos in Leos Welt, seinem Denken und Fühlen vielleicht besser abbildet, als wenn die Geschichte einfach nur glatt und ohne diese verrückten Episoden heruntererzählt worden wäre. (Übrigens ging es mir mit „Kollektorgang“, dem letzten prämierten Buch des Peter-Härtling-Preises, ziemlich ähnlich – auch hier gab es einige skurril-absurde Momente.) Allerdings kann ich mir vorstellen, dass sich einige Leser/innen damit nicht so recht anfreunden können.
„Death in Brachstedt“ könnte man auch als Entwicklungsroman ansehen, denn Leo findet durch das, was ihm widerfährt, ein Stück weit zu sich. Das spiegelt sich ein wenig auch in der zarten Liebesgeschichte wider, die das Buch enthält. Maja gegenüber, die Leo schöner als Nora Tschirner findet (irgendwann macht er ihr dieses Kompliment und Maja versteht es nicht so recht), Maja, an der er mag, dass aus ihren Pulliärmeln immer nur die Fingerspitzen rausschauen, traut sich Leo angesichts seiner Schüchternheit anfangs kaum zu begegnen. Am Ende sind die Zeichen klar: Leo kann Maja auch etwas aus seinem Leben erzählen, die beiden sind sich näher gekommen. Und Leo uns als Leser/in auch …
Fazit:
4 von 5 Punkten. Tobias Wagners „Death in Brachstedt“ tut man sicher nicht Unrecht, wenn man ihm zuschreibt, dass es eine raue, etwas ungeschliffen wirkende Geschichte erzählt. Das kommt sicher nicht bei allen Leser/innen an, weil es hier und da ein wenig wirkt, als hätte der Autor den roten Faden der Geschichte ab und zu aus den Augen verloren. Doch wer sich auf all das einlassen kann, es akzeptiert, wird mit einer in manchem wirklichkeitsnahen, in anderem schrägen Geschichte belohnt.
Unterm Strich, auch wenn ich mich an manchen Stellen über den Jugendroman gewundert habe, habe ich das Buch gerne gelesen; es ist anders als viele andere Jugendromane, und das ist durchaus erfrischend, weil man nicht das Gefühl hat, so etwas schon mal gelesen zu haben. Ich hätte mir durchaus gewünscht, dass die Demenz von Leos Vater noch ein bisschen genauer beschrieben wird – das ist ein Thema, das selten in Jugendbüchern auftaucht, und wenn, dann bei Großeltern, nicht beim Vater der Hauptfigur. Alles in allem ist „Death in Brachstedt“ aber ein gelungenes Debüt.
(Ulf Cronenberg, 25.02.2025)
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