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Buchbesprechung: Alison McGhee „Wie man eine Raumkapsel verlässt“

Cover: Alison McGhee „Wie man eine Raumkapsel verlässt“Lesealter 14+(dtv 2021, 205 Seiten)

Wer Bücher von Alison McGhee kennt, dürfte ahnen, dass ihr neuester auf Deutsch erschienener Jugendroman kein Science-Fiction-Buch ist – das wäre doch eher ungewöhnlich … Nein, der Titel ist metaphorisch gemeint, denn der Roman handelt von zwei Jugendlichen, die beide Traumatisches erlebt haben – und sich deswegen so fühlen, als würden sie in eine Raumkapsel eingesperrt sein. Wie sie versuchen, die schlimmen Erlebnisse hinter sich zu lassen, damit zu leben, davon handelt das Buch der amerikanischen Autorin.

Inhalt:

Will ist 16 Jahre alt und schlägt sich durchs Leben. Er geht zur Schule, jobbt in einem Laden, dessen Besitzer er Major Tom nennt und der ein eigenartiger Kauz ist; seine Mutter ist oft auf der Arbeit, hinterlässt ihm dann immer Zettel, auf denen sie ausdrückt, wie viel Will ihr bedeutet. Das ist ihr besonders wichtig, weil Will drei Jahre zuvor etwas Traumatisches miterlebt hat: Sein Vater, mit dem er viel gemacht und zu dem er eine innige Beziehung hatte, hat völlig unerwartet Suizid begangen – niemand hat etwas davon geahnt, denn Wills Vater war ein beliebter und stets gut gelaunter Mann. Will versteht auch drei Jahre später nicht, warum sein Vater das getan hat …

Als Playa, einer Freundin schon aus Kindergartentagen, ebenfalls etwas Schlimmes geschieht, weiß Will zunächst nicht, wie er sich verhalten soll. Am Ende einer Party wurde Playa von drei Jungen vergewaltigt; Will war auch dort, hatte die Party jedoch früher verlassen. Dass Playa dringend Trost braucht, weiß Will, er traut sich aber nicht, zu ihr zu gehen und sie anzusprechen. Und so beschließt Will, dass er täglich heimlich etwas vor ihre Haustür legt: eine Kleinigkeit in einer Tüte verpackt – mit dem Spruch „Don’t let the bastards get you down“ auf einem Kärtchen …

Bewertung:

„Wie man eine Raumkapsel verlässt“ (Übersetzung: Birgitt Kollmann; amerikanischer Originaltitel: „What I leave behind“) ist ein Buch, das sehr leise daherkommt. Es dauert etwas, bis man in die Geschichte hineinfindet, aber man wird von Seite zu Seite mehr von ihr gepackt – und zwar nicht, weil das Buch so spannend ist, sondern weil das Buch so eindrücklich Gefühle darstellt, dass man sich ihnen (sofern man sie an sich heranlässt) als Leser oder Leserin nicht entziehen kann.

Will, der Erzähler, ist eine bemerkenswerte Figur. Dass er nicht in der eigenen Trauer wegen des Suizids seines Vaters versinkt, sondern sich stattdessen um andere kümmert, sie trösten will, ist bewundernswert – und es ist nicht nur Playa, die er im Blick hat, sondern es gibt in der Geschichte weitere Personen, für die Will da sein möchte: darunter einen Obdachlosen und einen Jungen. An beiden läuft er immer wieder auf dem Weg zum Job vorbei und schenkt ihnen etwas. Selbst Major Tom, dem Besitzer des Ladens, in dem Will jobbt, gibt er Halt. (Den Namen hat Will seinem „Chef“ nicht ohne Grund gegeben; Major Tom ist eine von David Bowie, dem Lieblingsmusiker seines Vater, erfundene Figur: ein Astronaut, der nach Problemen mit seinem Raumschiff im All gestrandet ist.)

Major Tom ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Alison McGhee in ihrem Roman ganz besondere Figuren erschaffen hat. Der Ladenbesitzer ist ein kinderloser Mann, der sich immer einen Sohn gewünscht hat, der – so erlebt das Will zumindest – den Eindruck macht, als würde er seine Sehnsucht nach einem Sohn an Will ausleben wollen. Doch Major Tom verhält sich – überraschend für Will – oft viel einfühlsamer als erwartet. Alison McGhee macht das in ihrem Buch sehr gut: Sie zeichnet die Figuren im Buch sowie ihre Beziehungen untereinander dynamisch und sehr subtil – man hat als Leser oft den Eindruck, als könnte man in ihre Seele schauen.

Dass der Roman seine Wirkung entfaltet, hat jedoch weitere Gründe: vor allem Alison McGhees Schreibstil und die virtuose Buchkomposition sind hier zu nennen. „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ wird in 100 kleinen Episoden – der Begriff Schlaglichter passt vielleicht noch besser – erzählt: ziemlich assoziativ, mit Themensprüngen, die über die Episoden hinweg aber ein gekonntes Ganzes ergeben. Das Besondere daran ist, dass jede dieser Episoden aus genau 100 Wörtern besteht. Alleine für die Idee, die Zahl 100 so konsequent im Buch zu verwenden (100 Geschenke für Playa, 100 Episoden à 100 Wörtern) muss man Alison McGhee bewundern. Der Aufbau zieht sich konsequent durchs Buch. Die Episoden sind von 1 bis 100 nummeriert, und jeder Episode gehört eine Doppelseite: auf der linken Seite steht in chinesischer Kaligraphie (auch das hat etwas mit dem Buchinhalt zu tun) die Nummer der Episode, rechts befindet sich auf der unteren Seitenhälfte der Text. Typografisch hübsch gemacht ist das.

Zu guter Letzt gebührt auch der Übersetzung ein großes Lob: Sich als Übersetzerin an ein solches Buch heranzuwagen, ist sicher nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Heidenarbeit. Birgitt Kollmann hat mit ihrer einfühlsamen Übertragung ins Deutsche eine Glanzleistung vollbracht, die sich eindeutig gelohnt hat.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ ist ein Buch, das sehr empathisch von zwei Jugendlichen erzählt, die Schicksalsschläge zu verarbeiten haben, denen es aber gelingt, sich gegenseitig zu stützen. Man erfährt, wie man es schaffen kann, Traumata zu verarbeiten: indem man gute Geister an seiner Seite hat, die für einen da sind und in Beziehung gehen können. Davon, dass Will Playa zu helfen versucht, profitiert nicht nur das Mädchen, sondern auch er selbst. So funktioniert Resilienz.

Ich habe nicht zu allen Büchern, die ich von Alison McGhee gelesen habe, einen Zugang gefunden; es gibt allerdings von ihr das Bilderbuch „Someday“ (auf Deutsch: „Wenn du einmal groß bist“), bei dem es mir vor 10 Jahren so ähnlich ging wie bei „Wie man eine Raumkapsel verlässt“. Beides sind Bücher, die einem zeigen, dass das Leben kostbar ist, dass sein Glück aber auch an einem seidenen Faden hängt. Auch wenn „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ wahrscheinlich kein Verkaufsschlager wird, in mir wird das Buch noch lange nachhallen; ich werde bestimmt immer mal wieder in diese tief empfundene Geschichte schauen und dabei sicher noch einiges entdecken. (Schade übrigens, dass das Buch „nur“ als Taschenbuch erschienen ist …)

Ich ziehe jedenfalls meinen Hut vor der Autorin, vor der Übersetzerin und vor diesem Buch, das für mich eindeutig einen Literaturpreis verdient hat. Ich habe leider keinen zu vergeben, aber ich werde gespannt schauen, ob das Buch in nächster Zeit auf irgendwelchen Besten- oder Nominierungslisten auftauchen wird.

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(Ulf Cronenberg, 16.05.2021)

P. S. (eine kryptische Botschaft): Da ich mir sicher bin, dass eine bestimmte Person diese Buchbesprechung auch lesen wird: Ganz herzlichen Dank noch einmal für das grandiose „Someday“, das ich vor gut 10 Jahren aus gegebenem Anlass geschenkt bekommen habe. Das Buch hat einen Ehrenplatz in einem meiner Regale.

Kommentare (3)

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