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Buchbesprechung: Alison McGhee „Nachrichten von Micah“

Cover: Alison McGhee „Nachrichten von Micah“Lesealter 14+(dtv 2020, 246 Seiten)

Auf die Amerikanerin Alison McGhee dürften einige Leser/innen erst aufmerksam geworden sein, als sie im Frühjahr mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ doppelt auf der Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises zu finden war – bei Kritiker- und Jugendjury. Ich war erstaunt, aber das Buch ist ein kleines Meisterwerk und hat die zweifache Nominierung verdient. Viele Jahre vorher hatte ich mich nicht mit allen Büchern der Autorin anfreunden können, aber nun war ich nach dem Vorgängerbuch doch auf den neuen Jugendroman von Alison McGhee gespannt.

Inhalt:

Micah und Sesame sind schon einige Zeit zusammen und tun sich gegenseitig gut. Sesame hat in Micah, seit ihre Großmutter gestorben ist, angesichts ihrer prekären Situation Halt gefunden: Das Mädchen hat sonst niemanden, und da sie beim Tod der Großmutter nicht volljährig war, durfte niemand wissen, wo und wie sie lebt – und zwar in einer verlassenen Garage, die sie hergerichtet hat. Die zwei einzigen weiteren gleichaltrigen Freunde, die Sesame hat, wissen jedenfalls nichts von dieser Situation.

Micah hat es allerdings auch nicht leicht, denn seine Eltern folgen schon länger einem selbsternannten Propheten, der einer Sekte namens „Lebendes Licht“ vorsteht und das Verlassen der säkularen Welt propagiert. Im Zuge dessen haben Micahs Eltern ihren Job aufgegeben und warten darauf, vom Propheten mit dessen anderen Anhängern an einen anderen Ort gebracht zu werden. Und dann kommt der Tag. Micah versucht noch, ein nicht erlaubtes Handy mitzuschmuggeln, aber das wird bemerkt. Und so ist seine einzige Verbindung zu Sesame gekappt.

Mit seinen Eltern wird Micah an einen unbekannten Ort, der nicht verlassen werden darf, gebracht, und da Micah sich nicht unterordnen will, wird er in der Waschküche eingesperrt, wo er die weißen Gewänder der Sektenmitglieder waschen muss. Dort geht es ihm im Laufe der Zeit immer schlechter, seine Eltern wagen nicht, etwas für ihn zu tun. Sesame dagegen macht sich große Sorgen und versucht alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Micah zu finden. Doch die Polizei nimmt sie nicht richtig ernst. Trotz der Ausweglosigkeit gibt Sesame nicht auf und sucht selbst die ganze Stadt ab – sie vermutet, dass Micah weiterhin in Minneapolis ist …

Bewertung:

„Nachrichten von Micah” (Übersetzung: Birgitt Kollmann; englischer Originaltitel: „Where we are“) erzählt im positiven Sinn eigenwillig eine ungewöhnliche Geschichte. Am deutschen Titel mag man allerdings kritteln, dass er nicht so ganz treffend ist: Denn eigentlich besteht das Buch aus Nachrichten von Sesame an Micah und von Micah an Sesame – das Mädchen hat sogar den höheren Textanteil als Micah. Sei’s drum …

Die beiden, die schon einige Zeit ein Paar sind, haben das dringende Bedürfnis angesichts der unfreiwilligen Trennung miteinander in Kontakt zu bleiben und schreiben sich gegenseitig Texte, die der andere aber nicht lesen kann. Daraus resultiert über weite Strecken ein sehnsüchtiger Ton, der, je länger das Verschlepptwordensein von Micah dauert, immer drängender und verzweifelter wird. Beiden geht es nicht gut: Sesame wegen ihrer großen Sorgen, Micah, weil er sich in den Klauen der Sekte befindet und schikaniert wird.

Warum Micahs Eltern auf den schrulligen Sektenführer, der seine Bewegung „Lebendes Licht“ nennt, hereingefallen sind, bleibt im Buch ein Geheimnis. Als Leser/in wüsste man gerne mehr, aber da das Buch konsequent nur die Sicht von Micah und Sesame wiedergibt, ist das so folgerichtig angelegt. Micah versteht alles, was da passiert, nämlich selbst nicht, auch wenn er sich immer wieder den Kopf darüber zerbricht.

Apropos Zerbrechen. Wie Micah als recht selbstbewusster Jugendlicher zunehmend eingeschüchtert wird, sein Selbstvertrauen leidet, er Stück für Stück innerlich zerbricht, wird in dem Buch sehr eindrücklich beschrieben. Das ist schon fast beängstigend, weil es sprachlich sehr eindrucksvoll nachgezeichnet wird. Versuchen anfangs Micahs Eltern, ihn vorsichtig noch ein wenig zu stützen, so geben sie das angesichts des Drucks durch den Propheten und seines Handlangers Deeson nach und nach auf. Micah schmerzt das sehr, ja, es macht ihn fertig, und die einzige Hoffnung, an die er sich klammern kann, ist Sesame.

Dass Sesame und Micah eine ganz besondere Beziehung geführt haben, wird klar, wenn beide schreibend an vergangene Zeiten denken, die sie schmerzlich vermissen. Sesame, die nach dem Tod der Großmutter ganz auf sich allein gestellt ist, findet in Micah mit seiner unerschütterlichen und selbstlosen Art, etwas von sich zu geben, Halt. Das erinnert ein wenig an Will aus „Wie man eine Raumkapsel verlässt“, der Playa, der Schlimmes widerfahren ist, aufbauen will.

Man könnte hier vermuten, dass die Rollenverteilung – der starke Junge, das hilfsbedürftige Mädchen – klischeehaft angelegt ist, aber das stimmt absolut nicht, denn Sesame ist es im Buch, die angesichts der Verschleppung von Micah Stärke zeigt und ihn mit extrem großem Einsatz sucht. Überhaupt bricht das Buch an vielen Stellen mit Rollenklischees. Sesame findet in der schwierigen Zeit zum Beispiel Halt bei den beiden James, einem homosexuelles Paar. Und an anderer Stelle ist es wieder ein schwules Paar, bei dem Sesame Güte erfährt … Interessant ist diese Konstruktion: dass die meisten guten Menschen im Buch ein gesellschaftlich nicht den vorherrschenden Normen entsprechendes Leben führen. Im Gegenteil, die Eltern Micahs, im Buch das einzige heterosexuelle Paar außer Sesame und Micah, werden als schwach und manipulierbar dargestellt.

Dem Roman hätte es – aber das ist nur der Hauch einer Kritik – als Einziges gut getan, wenn er ein wenig gestrafft worden wäre; denn in der Mitte tritt er ein wenig zu lang auf der Stelle und man hat auf für eine Weile den Eindruck, dass zu wenig passiert. Ansonsten kann man nur einmal mehr bewundern, mit welcher Intensität es Alison McGhee gelingt, sich in ihre Figuren hineinzuversetzen, ihnen authentische Stimmen zu geben, und Figuren zu erschaffen, die einen packen und nicht loslassen.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Wie kommt man auf eine Geschichte wie diese? Das würde mich interessieren – es muss dafür ja fast so etwas wie einen Anlass gegeben haben … Gut, Sekten wie die im Buch gibt es in der Tat, es gibt auch Menschen, die auf vermeintliche Propheten hereinfallen und sich ihnen ausliefern. Aber das ist gerade alles andere als ein Modethema. Vielleicht ist das in den USA jedoch anders.

Wie dem auch sei, Alison McGhee hat aus dem Thema ein beeindruckendes Buch gemacht – man muss der Autorin zugutehalten, dass „Nachrichten von Micah“ kein typisches Problembuch geworden ist, sondern eine packende Geschichte erzählt, die ohne plakative und warnende Botschaften auskommt. Was mich darüber hinaus an dem Buch fasziniert, sind die darin vorkommenden Figuren (von den Sektenmitglieder abgesehen). Sesame erfährt so viel Hilfe und Unterstützung, als sie Micah sucht, das wirkt schon fast ein bisschen zu gut für unsere Welt. Alison McGhee scheint ein großes Vertrauen in die Menschen zu haben. Man mag das naiv finden, aber es ist mehr. Dahinter steht ein großes Urvertrauen.

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(Ulf Cronenberg, 19.06.2022)

P. S.: Der Hintergrund und Anlass für die Geschichte – das habe ich inzwischen erfahren – ist natürlich ein politischer. Auf welchen Politiker mit dem Propheten und seiner Gefolgschaft angespielt wird, kann sich ja jeder denken …

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