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Buchbesprechung: Neal Shusterman „Vollendet“

Cover Neal ShustermanLesealter 14+(Sauerländer-Verlag 2012, 429 Seiten)

Nun ja, das Cover des Buches fand ich nicht gerade ansprechend – den Jugendroman mit dem silber glänzenden Umschlag, der etwas reißerisch wirkt, habe ich deswegen erst mal länger beseite gelegt. Doch nachdem ich über das Buch von zweiten Seiten recht positive Stimmen vernommen hatte, habe ich mir Neal Shustermans Dystopie nun doch angeschaut. Dystopien (also Science-Fiction-Bücher mit negativem Gesellschaftsentwurf) sind bei Jugendromanen in den letzten Jahren ziemlich beliebt, aber dadurch fast schon etwas austauschbar, weil sie oft recht vorhersehbar waren, gewesen. „Vollendet“ behandelt immerhin ein spannendes Thema: Es geht um Jugendliche, deren Körperorgane für Kranke verwendet werden.

Inhalt:

Es ist schon einige Zeit her, dass es einen großen Krieg gab, in dem sich Abtreibungsgegner und -befürworter heftigst bekämpft haben. Am Ende wurde ein Kompromiss ausgehandelt. Eltern dürfen zwar nicht abtreiben, können ihre Kinder aber im Alter zwischen 13 und 17 Jahren wieder zurückgeben. Sie werden dann „zurückgewandelt“ – ein Euphemismus, der dafür steht, dass die Kinder und Jugendlichen getötet und ihre Körperteile kranken und versehrten Menschen zur Verfügung gestellt werden.

Der 16-jährige Connor, der wegen seiner Wutausbrüche gefürchtet ist, hat durch Zufall mitbekommen, dass seine Eltern ihn umwandeln lassen wollen. Doch er will sich seinem Schicksal nicht ergeben, und es gelingt ihm, kurz vor der Umwandlung zu fliehen. Dabei stößt er durch Zufall auf Risa, der ein ähnliches Schicksal beschieden ist. Beide kommen davon, leben allerdings auch in ständiger Gefahr, entdeckt und in ein Ernte-Camp (wie die Zurückwandelungslager heißen) zurückgebracht zu werden. Wandler werden sie als Flüchtlinge genannt.

Zu ihnen stößt noch ein weiterer Junge: Lev wurde als zehntes Kind durch seine religiösen Eltern dazu ausgewählt, geopfert und umgewandelt zu werden – ein alter religiöser Brauch. Als er die Möglichkeit zur Flucht hat, fordert ihn der Pastor der Familie unerwarteterweise auf, sich davonzumachen. Lev ist verwirrt, weil er den Pastor anders eingeschätzt hat, flieht zunächst mit Risa und Connor, hat aber den Plan, sich selbst und die beiden, sobald es geht, anzuzeigen. Lev ist nach wie vor davon überzeugt – sein ganzes Leben ist er darauf vorbereitet worden –, dass seine Umwandlung sinnvoll und wichtig ist. Und Connor und Risa möchte er, auch wenn er zunächst mit ihnen geflohen ist, nicht unterstützen.

Bewertung:

Neal Shusterman hat in seinem Buch eine nicht ganz unabwegige Idee aufgegriffen und auf die Spitze getrieben. Es gab schon wirklich Fälle, wo gezielt mit Organen von Kindern aus ärmeren Ländern gehandelt wurde. Anfangs ist man allerdings erst mal ein wenig wegen der Welt, die in „Vollendet“ (Übersetzung: Anne Emmert und Ute Mihr) beschrieben wird, vor den Kopf gestoßen. Dass Eltern ihre Kinder als Ersatzteillager für andere Menschen zurückgeben können, wenn sie ihnen nicht passen, ist schon eine recht abstruse und heftige Idee, die aber durchaus ihren Reiz hat.

„Vollendet“ ist trotz dieser Anlage alles in allem eher ein spannendes Abenteuerbuch als ein gesellschaftskritischer Roman. Das liegt vor allem daran, dass von der Grundidee mit der Umwandlung abgesehen die gesellschaftliche und politische Situation der Zukunft eher blass bleibt. Leider. In dem Buch geht es vor allem um die Flucht von Risa, Connor und Lev, denen immer wieder die Entdeckung droht und die einige brenzlige Situationen zu meistern haben.

Was das Szenario angeht, habe ich mich ein wenig an einen anderen Zukunftsroman erinnert gefühlt: „ZWEIundDIESELBE“ von Mary E. Pearson. Der Vergleich beider Bücher zeigt aber auch, wo die Schwächen von „Vollendet“ liegen: Das Buch ist literarisch, aber auch psychologisch deutlich weniger fundiert und ausgefeilt als Mary E. Pearsons Zukunftsroman. Die Beweggründe von Connor, Risa und Lev, ihre Persönlichkeitsveränderungen im Laufe des Buchs werden nicht so richtig plausibel erklärt und bleiben an der Oberfläche.

Außerdem fehlt es Neal Shustermans Buch ein wenig an literarischer Kraft. Zwar wird mehrperspektivisch erzählt (nicht nur aus der Sicht der drei Hauptpersonen), aber der Erzählstil im Präsens wirkt manchmal etwas bemüht und unrund, sprachliche Bilder findet man in dem Buch – um ein Beispiel zu nennen – so gut wie gar nicht. Auch hier wird deutlich, dass „Vollendet“ eben eher ein solider Abenteuerroman als eine literarische Entdeckung ist.

Fazit:

3 von 5 Punkten. Aus der Idee des Buches hätte man mehr machen können, und in der Mitte des Romans habe ich überlegt, ob ich das Buch nicht zur Seite legen soll. Mir war die Geschichte insgesamt zu oberflächlich, zu wenig sprachlich und psychologisch raffiniert, um wirklich als gutes Buch gelten zu können. Dass ich dennoch weitergelesen habe, lag daran, dass „Vollendet“ auf den letzten 200 Seiten immer packender wird. Ich wollte dann doch wissen, wie die Geschichte ausgeht.

Neal Shustermans Jugendroman ist, kurz zusammengefasst, eher nette Kost für zwischendurch, ein im Großen und Ganzen spannend erzähltes Buch, das aber darüber hinaus zu wenig zu bieten hat. „Vollendet“ reiht sich damit in die große Zahl von halbherzig entworfenen Dystopie-Szenarien im Jugendbuch ein, von denen es einige gibt. „Die Tribute von Panem” (zumindest Band 1) oder das oben schon erwähnte „ZWEIundDIESELBE“, um zwei gelungenere Beispiele zu nennen, haben mir da doch deutlich besser gefallen.

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(Ulf Cronenberg, 20.01.2012)

Kommentare (3)

  1. Ami

    Ich bin von dem Buch wirklich beeindruckt. Von der Panem-Trilogie habe ich zwar erst den ersten Band gelesen, aber „Vollendet“ spricht mich deutlich mehr an, schon allein deshalb, weil hier die Liebesgeschichte nicht so sehr im Vordergrund steht. Die Idee mit der Umwandlung ist echt originell, und gerade dass sie so heftig und abstrus ist, macht ihren Reiz aus. Allerdings ist die Tatsache, dass Menschen es als ihr Recht betrachten abzutreiben, genauso unfassbar – und doch ist es traurige Realität.

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