(Sauerländer-Verlag 2017, 513 Seiten)
Eher selten lese und bespreche ich Bücher, die schon vor zwei oder mehr Jahren erschienen sind, aber um mich auf eine Lesung mit Neal Shusterman vorzubereiten, habe ich mir auch den ersten Band der dreibändigen „Scythe“-Reihe (scythe spricht man übrigens im Englischen ohne das „c“ aus – da musste ich mich auch erst informieren) angeschaut. Weil am 25. November 2019 der dritte und letzte Band der Reihe erscheint, ist das gerade auch ein guter Zeitpunkt, um die Trilogie vorzustellen. Auch wenn die die „Scythe-Bücher“ viele Fans haben (und gerade Band 1 verfilmt wird): Nicht jeder kennt sie bereits …
Inhalt:
Kriege gibt es nicht mehr, der Tod ist abgeschafft, die Menschen werden nicht mehr krank und sie haben Botenstoffe im Körper, die kleinere Verletzungen und Wunden heilen und außerdem Schmerzen wegnehmen können. Statt von Menschen wird die Welt von einer künstlichen Intelligenz, dem so genannten Thunderhead, regiert. Das klingt fast nach einer perfekten Welt – doch es bleibt ein Problem: Es werden immer mehr Menschen, die die Erde bevölkern. Und deswegen gibt es die Scythes, eine Gruppe von Menschen, speziell und umfassend ausgebildet. Die Scythes haben die Aufgabe, Menschen auszuwählen und sie zu töten – wobei man von nachlesen statt töten spricht. Niemand darf sich den Scythes in den Weg stellen, wenn sie ihre Arbeit verrichten. Sonst würde die ganze Familie nachgelesen …
Citra lebt mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Ben zusammen, und eines Tages taucht bei ihnen Scythe Faraday auf. Wenn ein Scythe einer Familie einen Besuch abstattet, heißt das meist nichts Gutes. Doch im Fall von Citra ist es anders: Scythe Faraday hat Citra als neuen Lehrling ausgewählt. Doch nicht nur sie wurde als Lehrling rekrutiert: Mit ihr beginnt Rowan die Ausbildung. Das ist höchst ungewöhnlich, denn normalerweise suchen sich Scythes nur einen Lehrling.
Citra und Rowan mögen sich anfangs nicht sonderlich. Das ist auch gut so, denn persönliche Beziehungen zwischen Scythes sind streng verboten – insbesondere Liebesbeziehungen. Doch Citra und Rowan freunden sich während ihrer harten Ausbildung langsam an. Sie werden auch ordentlich gefordert, denn sie müssen alles über das Nachlesen lernen: Es gibt Unterricht in Giftkunde, sie werden mit Messern, Dolchen und Schwertern trainiert und sind körperlich fit wie nie. Allerdings ist eins auch von Anfang an klar: Nur einer von ihnen beiden wird am Ende zum Scythe ernannt werden – der andere wird in sein altes Leben zurückkehren müssen. Da beide sich nicht gut vorstellen können, gerne Menschen nachzulesen, stört sie das anfangs nicht …
Bewertung:
Eine faszinierende Welt ist das in „Scythe – Die Hüter des Todes“ (Übersetzung: Pauline Kurbasik und Kristian Lutze; amerikanischer Originaltitel: „Scythe – Arc of a Scythe“) ja schon. Neal Shusterman hat in einem Interview erklärt, dass er den vielen Dystopien (seine „Vollendet“-Reihe kann man da durchaus auch dazu zählen) mal etwas anderes entgegensetzen und eine Utopie (also eine positive Zukunftsvision) zum Ausgangspunkt seiner Geschichte machen wollte. Ja, keine Kriege, keine Krankheiten mehr – das klingt nach einer Utopie. Allerdings ist das mit dem Nachlesen durch die Scythes, die auf alle erdenkliche Arten Menschen töten, nicht unbedingt eine wirklich angenehme Zukunftsvorstellung.
Für die Story im Buch ist die Idee allerdings wichtig, und hinzu kommt, dass es unter den Scythes gute und „böse“ gibt. Während Scythe Faraday das Nachlesen mit Mitgefühl durchführen will (es ist eine Grundregel, dass dem Rest der Familie dann ein Jahr Immunität vor dem Nachlesen gewährt wird), kann man seinen Gegenspieler Scythe Goddard als egomanisch und größenwahnsinnig bezeichnen. Dieser scheint das Nachlesen im großen Stil zu genießen. Mit seinem Team macht er aus dem Nachlesen ein regelrechtes Gemetzel, wenn er zum Beispiel in ein abflugbereites Flugzeug kommt und alle Fluggäste tötet.
Was man von anderen Büchern Neal Shustermans kennt, lässt sich auch über den ersten Band von „Scythe“ sagen: Die Figuren sind psychologisch geschickt angelegt. Rowan und Citra wollen zum Beispiel beide eigentlich gar nicht Scythe werden – doch genau das prädestiniert sie laut Scythe Faraday für diese Aufgabe, denn es gehört nicht zu ihrer Persönlichkeit, die Macht des Nachlesens zu genießen und sie damit auszunutzen. Die Dynamik zwischen Citra und Rowan wird dann zunehmend spannend, weil beide irgendwann anfangen, den anderen zu schützen, und was letztendlich dahinter steht, ist, dass sie sich eben trotz Verbot ineinander verlieben (sorry, für den kleinen Spoiler). Eine ähnlich packende Dynamik findet man auch zwischen anderen Figuren im Roman.
Die Geschichte wird spätestens ab der Mitte so richtig spannend, denn es passiert viel Unerwartetes. Dabei gibt es einen großen erzählerischen Coup (davon erfährt man allerdings erst kurz vor Ende des Buchs), wo man als Leser quasi hinters Licht geführt wird – wie eben Citra und Rowan auch, aus deren Sicht die Geschichte größtenteils personal erzählt wird. Solche unerwarteten Wendungen machen ein spannendes Buch immer aus … Und fesselnd erzählen kann Neal Shusterman in jedem Fall.
Eingestreut sind zwischen die einzelnen Kapitel immer Tagebucheintragungen von verschiedenen Scythes. Da ist Scythe Curie, die später im Buch eine wichtige Rolle spielt, da ist Scythe Goddard, und da sind andere. Diese Tagebucheintragungen – meist nur ein bis zwei Seiten lang – sind das, was mir am wenigsten in dem Buch gefallen hat. Ja, sie zeigen ein bisschen, wie unterschiedlich die Berufsauffassung und dahinterstehende Philosophie der verschiedenen Scythes ist – aber das bringt die Geschichte nicht wirklich voran. Im Gegenteil, die Einschübe nehmen das Lesetempo heraus, sind in ihrer Häufigkeit überflüssig und passen nicht so ganz in die ansonsten gut konstruierte Story.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Scythe – Die Hüter des Todes“ entführt einen in ein interessantes Zukunftsszenario. Die Utopie beschreibt nicht wirklich eine erstrebenswerte Welt, auch wenn die Menschen nicht mehr krank werden, selbst nach einem Unfalltod wiederhergestellt werden können und eine hohe Lebenserwartung haben (man kann übrigens „über den Berg steigen“, also den Körper quasi zurücksetzen, und ist dann wieder jung). Denn selbst die perfekte Welt kennt Probleme und Schattenseiten. Dass eine künstliche Intelligenz das Leben der Menschen regelt, ist eine interessante Idee, deren Auswirkungen allerdings in Band 1 für meinen Geschmack noch zu kurz dargestellt werden. Da Band 2 im Englischen den Untertitel „Thunderhead“ trägt, spielt jedoch die künstliche Intelligenz dort vielleicht eine größere Rolle …
Meiner Meinung nach ist „Scythe – Die Hüter des Todes“ ein Buch, das man gerade auch Lesemuffeln in die Hand geben kann. Das Buch hat zwar gut 500 Seiten, aber es bietet ansonsten einiges, womit man Wenigleser und Lesevermeider (gerade männliche) locken kann: Hinter der Geschichte steht in Ansätzen ein computerspielähnliches Szenario, das Buch hat Science-Fiction-Elemente und leichte Fantasy-Anklänge. Dass die philosophische Idee hinter der Utopie vielleicht etwas zu kurz kommt, kann man dem Buch vorwerfen – aber „Scythe – Die Hüter des Todes“ ist eben ein auf unterhaltsame Spannung ausgelegtes Buch, und das ist ja nichts Verwerfliches. Zum Nachdenken über Themen wie Unsterblichkeit, Macht, künstliche Intelligenz und anderes kann man sich trotzdem verführen lassen. Und weil ich irgendwann beim ersten Band nicht mehr zu lesen aufhören konnte, werde ich, auch wenn ich mir die Lesezeit für weitere gut 500 Seiten hart erkämpfen muss, auf absehbare Zeit auch mit dem 2. Band („Scythe – Der Zorn der Gerechten“) anfangen.
(Ulf Cronenberg, 01.11.2019)
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