(Baobab Books 2024, 159 Seiten)
Es war nicht so ganz selbstverständlich, dass alle vier Bände der Graphic Novel über den taiwanesischen Bürgerrechtler Tsai Kun-lin erscheinen würden – ob die weiteren Bände auch ins Deutsche übertragen werden, wurde erst nach dem ersten Band entschieden. Aber nun sind wir beim vierten und letzten Band angelangt, und was Baobab Books da auf die Beine gestellt hat, ist ein ambitioniertes Projekt. Ich war vorab gespannt, welche Farben diesmal im Vordergrund stehen würden; auf dem Cover ist es ein leicht abgedunkeltes Orange und helles, leicht pastellenes Grün.
Inhalt:
Es ist etwas Ruhe in Kun-lins Leben eingetreten – er hat eine Familie, die turbulenten Zeiten mit eigenem Verlag und eigener Zeitschrift sind vorbei; aber Kun-lin leidet nach wie vor darunter, dass sein Verlag insolvent war, er viele Menschen entlassen und dass er mit seiner Familie in eine kleinere Wohnung umziehen musste. Immerhin hat er einen festen Job bei der großen Firma Cathey und kann davon auch seine Schulden nach und nach abstottern.
Sein Chef bittet ihn, bei der Vortragsreise eines erfolgreichen japanischen Geschäftsmanns zu dolmetschen. Kun-lin zögert, da er verhindern will, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Wegen seiner Verlagspleite hatte er einen ungedeckten Scheck ausgestellt, was ihn ins Gefängnis bringen könnte, würde es aufgedeckt. Trotzdem lässt er sich schließlich auf das Übersetzen ein und wird für seine Arbeit gelobt. Und so steigt Kun-lin auf, wird Verkaufsleiter der firmeninternen Werbeagentur und später Sekretär der Konzernleitung. Einige Jahre später bekommt er den Auftrag, an einem taiwanesisches Nachschlagewerk nach dem Vorbild der Encyclopædia Britannica zu arbeiten.
Die politische Situation in Taiwan bleibt angespannt. 1979 nehmen die USA diplomatischen Kontakt zur Volksrepublik China auf und entziehen ihn deswegen der Republik China (dem heutigen Taiwan). Zuvor war Chiang Kai-shek gestorben, der Taiwan jahrelang diktatorisch regiert hatte. Sein Sohn übernimmt die Führung, und 1987 wird das Kriegsrecht aufgehoben, was demokratische Veränderungen auf Taiwan möglich macht. Als Kun-lin in Pension geht, engagiert er sich ehrenamtlich. Sein Ziel ist es, die Opfer des so genannten Weißen Terrors, zu denen auch er zählt, zu rehabilitieren und seinen Mitmenschen deutlich zu machen, wie viele Menschen in der damaligen Zeit leiden mussten.
Bewertung:
Tsai Kun-lin, dessen Leben in den vier Graphic-Novel-Bänden nachgezeichnet wird, ist im September 2023 im Alter von 93 Jahren gestorben – das wusste ich noch nicht. Dass seine Lebensgeschichte vollständig auch auf Deutsch erscheint, hat er nicht mehr mitbekommen – nur bei Band 1 war er noch am Leben.
Unter der Unterüberschrift „Was bleibt“ (Übersetzung: Johannes Fiederling) wird im letzten Band nun nachgezeichnet, wie Taiwan sich in einem längeren Prozess in ein demokratisches Land verwandelt und wie Kun-lin zur Ruhe kommt, zugleich aber daran arbeitet, die Erinnerung an die schlimme Zeit des Weißen Terrors, in dem einige seiner Weggefährten und Freunde gestorben sind, aufrechtzuerhalten. Unermüdlich führte er in seinen letzten Lebensjahren Menschen durch die Gedenkstätte, die auf der Insel Lü Dao aus der ehemaligen Strafkolonie errichtet worden war. Dort, wo er auch 10 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbracht hat. Die Kraft, die Kun-lin in seinem ganzen Leben hatte, all die schwierigen Zeiten wegzustecken, ohne verbittert zu werden, kann man als Leser/in nur bewundern.
In Band 4 taucht als Figur mehrmals auch die Texterin Pei-yun Yu der Graphic Novel auf. Es werden Begegnungen von ihr mit Kun-lin eingestreut: wie er sie durch die Gedenkstätte führt, wie er von ihr interviewt wird. Das bildet anders als in den Vorgängerbänden quasi den Rahmen für die Graphic Novel. Dazwischen ist das Buch in Schlaglichtern erzählt, die sich an markanten Situationen in Kun-lins letzten Lebensjahrzehnten oder an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen orientieren.
Das hält einen als Leser/in ganz schön auf Trab, weil so viele Stationen aus Kun-lins Leben Eingang in das Buch finden. Es gibt einige größere Zeitsprünge, zu Beginn eines neues Abschnitts steht aber immer eine Jahreszahl, dann folgen ein paar Sätze, mit denen in den zeitgeschichtlichen Hintergrund eingeführt wird. Man tut gut daran, das Personenregister im Anhang zu Rate zu ziehen, denn die taiwanesischen Namen klingen für uns oft schon sehr ähnlich. Ich habe das Personenregister leider erst am Ende des Lesens entdeckt; hätte ich vorher davon gewusst, hätte mir das einiges leichter gemacht. Alles in allem kommt der finale Band stärker zergliedert und damit etwas unausgewogener als die anderen drei Bände daher.
Die Coverfarben der Tsai-Kun-lin-Reihe unterscheiden sich zwischen Band 1 bis Band 4 recht stark. Das Orange und Grün des letzten Bandes gefällt mir allerdings richtig gut, und im Buchinneren wird neben Schwarz nur eine weitere Akzentfarbe eingesetzt: Rot in verschiedenen Tönen, von eher hellem Rosa bis zu einem kräftigen Orange-Rot.
Wie schon in den Vorgängerbänden ist die Seitengestaltung abwechslungsreich. Es gibt Doppelseiten, die nur ein Bild zeigen; und die Seiten, die im Comicstil mehrere Kästen enthalten, sind variabel gestaltet, oft mit ungewöhnlichen Bildschnitten. Eintönig ist das ganz und gar nicht, und man findet wirklich beeindruckende Layouts im Buch (siehe die hier eingefügten Buchabbildungen).
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Die vierbändige Kun-lin-Reihe ist abgeschlossen, und ich blicke mit etwas Wehmut darauf, aber vor allem auch mit einer großen Dankbarkeit, weil Baobab Books dieses einzigartige Werk ins Deutsche übertragen hat. Man kann sich vorstellen, was für ein Aufwand das war – enthält das Buch unter anderem Text in drei Sprachen (die im Deutschen in unterschiedlichen Farben wiedergegeben sind). Da steckt einiges an Arbeit dahinter, und das Projekt wurde nun liebevoll und durchdacht zu Ende gebracht. Wir brauchen jedenfalls solche Bücher, die uns die Geschichte und das Leben anderer Länder, die uns eher fremd sind, erklären, die uns andere Kulturen nahebringen. Und das gelingt den vier Graphic-Novel-Bänden von Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou eindeutig.
Der Zugang zu den Büchern ist nicht immer leicht, weil uns als Mitteleuropäer die Namen verwirren, und die Bildsprache unterscheidet sich auch in einigem von unserer. Aber es lohnt sich, sich mit den Büchern auf das Leben von Kun-lin einzulassen. Band 4 ist deswegen so beeindruckend, weil man darin nahbar erfährt, dass Kun-lin sich nicht unterkriegen hat lassen und wie engagiert er in seinen letzen Lebensjahren für Demokratie, Versöhnung und Verständnis gekämpft hat.
Die Kun-lin-Bände sind eine Buchreihe für den langen Atem, die hoffentlich im schnelllebigen Buchmarkt Bestand haben und nicht schnell wieder verschwinden. Denn das wäre schade, den Büchern seien vielmehr viele Leser/innen gewünscht – gerade angesichts der Situation, dass Taiwan schon seit Jahren durch den politisch-militärischen Druck und Expansionsdrang Chinas gefährdet ist. Hoffen wir, dass das Land nicht erneut in eine schwere Krise gestürzt wird, indem China einen Krieg gegen den Inselstaat anzettelt.
(Ulf Cronenberg, 01.11.2024)
P. S.: Man sollte die vier Bände nacheinander lesen – ein Quereinstieg nach Band 1 macht keinen Sinn, da die Bücher aufeinander aufbauen.
Die Buchbesprechungen der drei anderen Bände findet ihr hier: Band 1, Band 2 und Band 3.
Abdruck der Buchseiten mit freundlicher Genehmigung von Baobab Books – herzlichen Dank! Die Bild- und Text-Rechte liegen bei den Autor/inn/en und dem Verlag.
Ich bin einfach glücklich, dass ich diese Buchreihe durch deinen Buchtipp entdeckt habe. Ich teile deine Einschätzung, obwohl mich jeder Band in den Bann gezogen hat, schon nach wenigen Seiten. Alle, die gerne Neues entdecken, und immer überfordert sind, wenn sie nach ihren Weihnachtswünschen gefragt werden, finden in diesen vier Bänden die Lösung.
Danke, Manfred, für deine Rückmeldung … Und freut mich, dass dich die Bücher in den Bann gezogen haben.