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Buchbesprechung: Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las“

Cover: Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“Lesealter 14+(Baobab-Verlag 2023, 167 Seiten)

Mit der Insel Taiwan verbinden derzeit wohl alle, die das politische Tagesgeschehen verfolgen, dass man die Sorge hat, China könnte bald Taiwan so wie Russland die Ukraine angreifen. China sendet Drohgebärden in Form von Militärübungen vor Taiwan, die USA und andere westliche Länder unterstützen Taiwan und wollen das verhindern. Dass hinter all dem eine lange und schwierige Vergangenheit des Inselstaats steht, das wie ein Spielball wechselnde Zugehörigkeiten hatte (vor allem zu Japan und China), dürften viele nicht wissen. Die vorliegende Graphic Novel berichtet in der Nacherzählung des Lebens von Tsai Kun-lin davon.

Tsai Kun-lin (der Nachname ist in Taiwan vorangestellt) wird im Jahr 1930 als achtes von insgesamt zehn Kindern geboren; Taiwan ist damals seit 35 Jahren japanische Kolonie, im Kindergarten und in der Schule lernen die Kinder japanisch und werden in der japanischen Kultur unterrichtet. Kun-lins Vater ist Gemischtwarenhändler. Die ersten Jahre hat Kun-lin eine unbeschwerte Kindheit, bis ein schweres Erdbeben Taiwan erschüttert und es mehrere Tausend Tote gibt. Die Familie Kun-lins überlebt, aber das Haus der Familie wird zerstört.

Kun-lin zeigt sich in der Schulzeit als wissbegieriger und schlauer Schüler und wird von seinen Lehrern, die streng sind, gefördert. So schafft er es schließlich an die besten weiterführenden Schulen. Doch auch hier ändert sich alles, als Japan 1945 im Zweiten Weltkrieg kapituliert. Die Japaner ziehen sich aus Taiwan zurück – viele Menschen nehmen das anfangs positiv auf.

Doch es dauert nicht lange, da marschieren die chinesischen Kuomintang-Truppen vom Festlandein ein. Was folgt, ist eine schlimme Zeit, die lange währt: Die Zeit des „Weißen Terrors“, wie sie genannt wird, beginnt. Vieles im Leben der Taiwaner wird umgekrempelt. Statt Japanisch müssen alle nun Hochchinesisch lernen – das gilt auch für Kun-lin. Auch müssen die die Menschen ihre japanischen zweiten Namen abgeben und stattdessen bekommen sie chinesische. Und schließlich wird der inzwischen 19-jährige Student Kun-lin, weil er viel liest, beschuldigt, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein, und infolgedessen verhaftet und verurteilt. Dabei hatte es sich nur um den Leseclub in seiner Schule gehandelt.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 81

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 81: Luftalarm, als Kun-lin mit dem Zug fährt

Die Graphic Novel von Pei-yun Yu, die für den Text verantwortlich zeichet, und Jian-xin Zhou als Illustrator erzählt eine wahre Lebensgeschichte nach. Kun-lin ist in Taiwan bekannt, weil er sich seit vielen Jahrzehnten für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzt. Pei-yun Yus und Jian-xin Zhous Plan war, aus Kun-lins bewegtem Leben eine Graphic Novel zu machen; weil sein Leben so viele bedeutende Momente und Stationen hatte, sollen es vier Bände werden. „Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las“ (Übersetzung: Johannes Fiederling) wurde nun als erster Band bei Baobab Books in deutscher Sprache veröffentlicht.

Der Reiz von bei Baobab erschienenen Büchern war und ist schon immer, dass sie möglichst unverfälscht aus anderen Kulturen Bücher ins Deutsche bringen wollen; und was die Graphic Novel aus Taiwan leistet, ist nichts anderes. Das führt dazu, dass man anfangs von der Geschichte etwas irritiert ist. Sie hat einen ganz eigenen, sehr distanzierten Erzählstil, der es Leser/inne/n etwas schwer macht, in die Geschichte hineinzukommen. Hinzu kommt, dass man die für uns gleichklingenden Namen kaum auseinanderhalten kann.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 89

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 89: Für die Familie Kun-lins beginnt am Ende des Zweiten Weltkriegs eine schwere Zeit.

Diese anfängliche Fremdheit hat sich bei mir allerdings nach gut 50 Seiten verflüchtigt, und ab da war es so, dass ich die Geschichte Kun-lins immer interessanter und spannender fand. Sie hat mich zunehmend in Bann geschlagen. Man kommt irgendwann auch nicht umhin, Kun-lin zu bewundern, wie er all das, was in seinem Leben passiert (und das ist in Band 1 ja erst der Anfang), wegsteckt und seinen Weg geht.

Grafisch ist „Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las“ in zwei Farben gestaltet: in Grau-schwarz und Rosa-rot. Auch die Farbe der Schrift wechselt: Schwarz steht für die taiwanische Sprache, Grau für Japanisch und Rosa für Chinesisch. In der Originalausgabe werden einfach die verschiedenen Sprachen verwendet – das ist in einer Übersetzung nicht wirklich nachzubilden. Durch den Farbwechsel bei den Schriften hat man aber versucht, das in der Übersetzung abzubilden – eine gute Idee, durch die dennoch etwas von der Authentizität des Originals verlorengeht. Aber das geht gar nicht anders.

Wie man an den drei Beispielseiten aus dem Buch erkennen kann, sind die Seiten sehr unterschiedlich gestaltet: Da gibt es Seiten, die nur eine große Zeichnung enthalten, andere bestehen aus aneinandergereihten Bildkästen. Oft sind aber auch ungewöhnliche Schnitte zu erkennen: Da sieht man dann wie auf Seite 113 (in der Abbildung unter diesem Absatz) in der unteren Hälfte der Seite nur die Füße und Oberkörper der Menschen. Das hat durchaus seinen besonderen Reiz. Und auch die Farbgebung, die wie der Strich der Zeichnungen dezent bleibt, gefällt mir.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 113

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ – Seite 113: Taiwan wird von China besetzt …

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. „Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las“ ist eine Graphic Novel, die einem die dramatische Geschichte Taiwans der letzten knapp 100 Jahre nahebringt – und das auf besondere Art und Weise: indem das Buch die Lebensgeschichte des Menschenrechtlers Kun-lin nacherzählt. Ganz nebenbei lernt man durch die Graphic Novel viel. Ein Nachwort und eine Zeittafel der geschichtlichen Ereignisse (beides am Ende des Buchs) helfen einem, sich besser zu orientieren und mehr über die Hintergründe zu erfahren.

Was einen anfangs etwas irritieren mag, ist letztendlich die Stärke dieser Graphic Novel: Sie zeichnet mit etwas anderen Erzähl- und Illustrationskonventionen als unseren europäischen nach, was Kun-lin in seinem langen Leben mitgemacht hat. Und das lässt einen, sofern man sich darauf einlässt, nicht kalt – obwohl alles aus einem distanzierten Blickwinkel berichtet wird. „Tsai Kun-lin – Der Junge, der gerne las“ ist ein besonderes Buch, sicher nichts für den/die Mainstream-Graphic-Novel-Leser/in. Aber gerade deswegen lohnt es sich, das Buch zu lesen.

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(Ulf Cronenberg, 05.05.2023)

Hier geht es zur Buchbesprechung von Band 2 „Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre

Abdruck der Buchseiten mit freundlicher Genehmigung von Baobab Books – herzlichen Dank! Die Bild- und Text-Rechte liegen bei den Autor/inn/en und dem Verlag.

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