Jugendbuchtipps.de

Buchbesprechung: Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre“

Cover: Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre“Lesealter 14+(Baobab-Verlag 2023, 179 Seiten)

Band 1 der vierbändigen Graphic-Novel-Reihe „Tsai Kun-lin“, die das Leben des taiwanesichen Bürgerrechtlers mit gleichem Namen nacherzählt, ist im Frühjahr 2023 erschienen … Wer mal etwas anderes lesen und anschauen wollte, hat mit dem ersten Band des Texter- und Illustration-Duos Pei-yun Yu und Jian-xin Zhou eine gute Wahl getroffen. Das Faszinierende für mich war und ist die andere Bildsprache der Graphic Novel, aber auch der Blick in einem mir völlig unbekannte Welt. Band 2 führt die Geschichte nun fort.

Der Untertitel verrät schon, dass die zehn Jahre, um die es im zweiten Band geht, zu den schwierigsten im Leben von Kun-lin zählen. Als junger Mann mit 19 Jahren wird Kun-lin gefangengenommen, als in Taiwan 1950 Chiang Kai-shek in Taiwan ein diktatorisches System aufbaut. Um die Befürworter eines unabhängigen und freien Taiwans aus dem Weg zu schaffen, werden Tausende von Menschen willkürlich verschleppt und in Gefangenenlager gesteckt. Dazu zählt auch Kun-lin, der erstmal unter Schlägen und Folter verhört wird und gar nicht weiß, warum er verhaftet wurde und was ihm vorgeworfen wird. Am Ende ist er von der physischen und psychischen Folter so gebrochen, dass er das fingierte Schuldeingeständnis unterschreibt, das ihm vorgelegt wird.

(Ein kleiner geschichtlicher Exkurs für Interessierte am Rande: Chiang Kai-shek war der Gegenspieler des chinesischen Kommunisten Mao Zedong. Als dieser auf dem chinesischen Festland am Ende der von 1927 bis 1949 dauernden Chinesischen Bürgerkriege die Oberhand gewann, baute Chiang Kai-shek auf Taiwan die Republik China auf. Er regierte in vielem diktatorisch und erhob bis zu seinem Tod 1975 mit US-Unterstützung Anspruch auf ganz China. Quelle: Wikipedia-Artikel über Chiang Kai-shek, Seitenaufruf am 5.11.2023)

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ (Band 2) – Seite 20

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin. Die gestohlenen Jahre“ – Seite 20: Kun-lin wird verhört …

Was folgt, sind Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Gefangenenlagern. Anfangs kommt Kun-lin unter anderem in eine Verwahranstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Taipeh und in eine Rehabilitierungsanstalt, später in ein Lager auf der Insel Lü Dao (Grüne Insel), früher Feuerinsel genannt. 1950 bei der Verhaftung ist Kun-lin gerade mal 19 Jahre alt und schaut auf mindestens 10 Jahre Gefangenenlager – das sieht das Willkür-Urteil vor.

Was sich in dieser Buchbesprechung kurz zusammengefasst recht sachlich liest, schmückt die Graphic Novel mit drastischen Bildern aus, und sie macht damit deutlich, was für eine schlimme, ja grausame Zeit die Jahre in den Gefangenenlagern waren. Sind die Bilder in Band 1 oft noch heiter und vermitteln in nicht wenigen Momenten auch eine gewisse Unbeschwertheit, so sind sie in „Die gestohlenen Jahre“ bis auf wenige Seiten ganz in Schwarz und Grau gehalten. Alles ist düster, dunkel, es gibt nur wenige Lichtblicke in Kun-lins Leben.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ (Band 2) – Seite 51

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin. Die gestohlenen Jahre“ – Seite 51: Es gibt noch wenige Momente der Leichtigkeit trotz Gefangenschaft.

Es sind vor allem die Freundschaften, die Kun-lin helfen, sich im Gefangenenlager über Wasser zu halten – doch auch hier ist einiges an Tragik versteckt, wenn Kameraden ohne Ankündigung verlegt werden oder sterben. Was ihm außerdem über die schwere Zeit hilft, sind Singen und Tanzen. Auch davon erzählt die Graphic Novel. Die Gesichter der Gefangenen sind übrigens oft schwer zu unterscheiden. Kun-lin erkennt man aber immer – das ist geschickt gemacht – an seiner Brille: ganz am Anfang noch rundlich, später rechteckig.

Die Illustrationen haben auch in Band 2 ihre eigene Sprache. Es gibt ganzseitige Bilder, die besonders eindrücklich sind, wenn Kun-lin im Gefängnis tanzt oder seine Einsamkeit und Hilflosigkeit während der Verhöre und der Folter dargestellt wird (siehe Abbildungen oben). Andere Seiten sind kunstvoll aus kleinen Illustrationen zusammengestellt, zum Teil mit ungewöhnlichen Schnitten und einem Blick auf charakteristische Details. Da steckt viel Arbeit drin, denn keine Seite gleicht der anderen, und bewundernswert ist, wie oft mit einfachen Mitteln doch so viel Aussagekraft in die Bilder gelegt wird.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ (Band 2) – Seite 58

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin. Die gestohlenen Jahre“ – Seite 58: Beim Arbeiten in der schwülen Hitze plagen einen auch noch stechende Insekten.

Das Schwarz und Grau der Illustrationen wird von wenigen Ausnahmen abgesehen (immer, wenn Kun-lin mal einen Blick in die Freiheit werfen kann) nur auf den letzten Seiten aufgebrochen. Als Kun-lin schließlich aus der Gefangenschaft nach Hause zurückkehren darf, werden das Meer und der Himmel in einem hellen Blau gezeichnet und symbolisieren die Weite und die Freiheit, die Kun-lin endlich wieder erlangt hat. Dass die Welt nicht stehen geblieben ist und sich auch in seiner Familie in den zehn Jahren Tragisches ereignet hat, erfährt Kun-lin, als er nach Hause kommt.

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin“ (Band 2) – Seite 166

Pei-yun Yu & Jian-xin Zhou „Tsai Kun-lin. Die gestohlenen Jahre“ – Seite 166: Kun-lin, aus der Gefangenschaft entlassen wieder in Taipeh

Fazit:

5 von 5 Punkten. Man kann Kun-lin als Mensch, wie er die sinnlose Willkür und Gewalt erträgt und sich nicht brechen lässt, nur bewundern; und man kann bewundern wie diese Lebensgeschichte in Text und Bild in einer Graphic Novel dargestellt wird. Manches ist einem als mitteleuropäische/r Leser/in und Betrachter/in fremd: weil die Geschichte in einer anderen Zeit und in einer völlig anderen Gesellschaft spielt; aber auch, weil die Bild- und Textsprache in der Graphic Novel eine etwas andere als unsere Mitteleuropäische ist. Das wirkt ab und zu vielleicht etwas holprig; aber genau das macht den Reiz der Bildgeschichte aus.

Ich wiederhole mich (siehe Buchbesprechung zu Band 1), wenn ich sage, dass es sich lohnt, „Tsai Kun-lin – Die gestohlenen Jahre“ von Pei-yun Yu und Jian-xin Zhou anzuschauen und zu lesen – die Bücher zeichnet eine Eindrücklichkeit aus, die man nicht so oft findet und die wohl auch ihren Grund darin hat, dass hier die wahre Lebensgeschichte eines beeindruckenden Menschen nacherzählt wird. Baobab Books war sich bei meiner letzten Nachfrage noch nicht sicher, ob auch Band 3 und 4 den Weg ins Deutsch finden werden – ich hoffe sehr, dass sie auch veröffentlicht werden, denn ich würde sehr gerne wissen, wie Kun-lins Leben weitergegangen ist.

blau.giflila.gifrot.gifgelb.gifgruen.gif

(Ulf Cronenberg, 05.11.2023)

Abdruck der Buchseiten mit freundlicher Genehmigung von Baobab Books – herzlichen Dank! Die Bild- und Text-Rechte liegen bei den Autor/inn/en und dem Verlag.


Entdecke mehr von Jugendbuchtipps.de

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Kommentare (2)

  1. Manfred

    Ich möchte mich für diesen Buchtipp ganz herzlich bedanken. Den dritten Band habe ich mir bereits vorbestellt – er wird auch auf Deutsch erscheinen.
    Für mich schafft diese Graphic Novel, was Literatur immer wieder soll: Neue Welten öffnen, fesseln, verstören, zum Nachdenken anregen, Wissen erweitern. Tsai Kun-lin kann ich ebenfalls nur wärmstens empfehlen.

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Das freut mich sehr! Und gerade heute ist das Thema Taiwan mit den Wahlen, die gestern stattgefunden haben, und der Frage, inwiefern Taiwan unabhängig bleiben oder von China angegriffen wird, besonders aktuell.

      Antworten

Buch oder Besprechung kommentieren? Jederzeit gerne, aber bitte höflich!