(Rowohlt rotfuchs 2021, 188 Seiten)
Sarah Jägers Jugendroman-Debüt „Nach vorn, nach Süden“ habe ich leider verschlafen – und das tut mir leid, weil ich doch viel Lobenswertes über das Buch gehört habe. Doch da meine Lesezeit derzeit so begrenzt ist, lese ich nur aktuell erschienene Bücher; aber immerhin ist vor kurzem Sarah Jägers zweiter Jugendroman erschienen, und den habe ich mir nicht entgehen lassen. Es geht, das sei kurz schon erwähnt, um eine Clique aus fünf Jugendlichen, die gerade ihr Abitur hinter sich haben.
Inhalt:
Schon in den ersten Jahren am Gymnasium haben sie sich gefunden: Maja, Suse, Pavlow, Bo und Tolga; und sie haben viel Zeit miteinander verbracht: in und außerhalb der Schule. Ihr liebster Ort war bei Penne, der eine Kneipe führt und wo sie einen festen Tisch hatten. Doch nun haben alle ihr Abitur geschrieben haben (nur einer von ihnen hat es versemmelt) und es steht die Frage im Raum, wie es mit der Clique weitergeht …
Zunächst nach der Abiturverabschiedung wartet am Abend noch das Abiturfest auf sie: in der Turnhalle der Schule. Bevor der Abend beginnt, beschließen die fünf, dass sie einen ganz besondere Nacht verbringen wollen, an der sie Dinge tun, an die sie sich bisher nicht herangewagt haben. Es soll eine unvergessliche Nacht werden, bevor sie auseinandergehen und sich nicht mehr jeden Tag sehen.
Los geht es mit Pavlow, der eine Stinkwut auf seinen Vater hat, der seine Mutter und ihn verlassen hat, um eine neue Familie zu gründen. Weil Pavlow weiß, dass sein Vater nicht zu Hause ist, er auch den Ort des Reserveschlüssels kennt, stehen sie kurz darauf in dem schnieken Haus des Vaters. Und was harmlos mit dem Trinken von edlen Spirituosen beginnt, artet irgendwann aus … Und dann steht der Vater plötzlich in der Tür. Doch der Abend ist für die fünf Freunde noch lange nicht vorbei.
Bewertung:
So ein Abschlussabend nach dem Abitur hat es in sich: 12 oder 13 oder mehr Schuljahre liegen hinter einem, man wird sich vielleicht bald aus den Augen verlieren; Sarah Jäger hat so einen denkwürdigen Abend als Szenario für ihr Buch gewählt. Und was Maja, Suse, Pavlow, Bo und Tolga sich vornehmen, muss natürlich eskalieren. Spätestens als Pavlows Vater die feiernden und demolierenden Freunde in seinem Haus überrascht, gerät einiges aus dem Ruder – und es ist nicht nur Pavlows maßlose Wut auf seinen Vater, die sich im weiteren Verlauf Bahn bricht.
Was Sarah Jäger in ihrem Roman skizziert, könnte man als das Psychogramm von fünf Jugendlichen ansehen, die an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Es geht vordergründig nur um die Abiturfeier selbst sowie die Nacht darauf – doch „Die Nacht so groß wie wir“ ist mehr: ein gruppendynamisches Kabinettstück. Verdichtet, auf den Punkt gebracht und ein wenig überzeichnet; denn es ist ganz schön viel los zwischen den fünf Figuren, mehr als eine Nacht eigentlich verträgt.
Erzählt wird der Großteil des Buchs aus vier Perspektiven (nur in der Mitte und am Ende wird das kurz aufgelöst) – warum Tolga als Erzähler außen vorbleibt, weiß ich nicht; es sind jedenfalls nur vier der fünf, die als Erzähler/innen fungieren. Geschickt gemacht ist neben dem ständigen Wechsel der Erzähler, dass frühere bedeutende Erlebnisse zwischen den fünf Freunden immer wieder in kursiver Schrift eingearbeitet sind. So bekommt man gut mit, welche wichtigen Stationen es in ihrer Freundschaft gab – von Krisen bis hin zu zusammenschweißenden Situationen.
Der bereits erwähnte erste große Höhepunkt im Buch – dass Pavlow beginnt, seines Vaters Haus mit den teuren Gegenständen, zu zerlegen – ist ein Moment, der die Gruppe einerseits zusammenschweißt, sie andererseits aber auch aufwühlt und etwas aufzubrechen scheint. Was mich an der Szene allerdings gestört hat, ist, dass sie so plakativ ist. Klar, sie bringt Tempo in die Geschichte, durch die Szene wird alles auf die Spitze getrieben; aber dass die Wut sich so entlädt, ist als Szene zu klischeehaft.
Doch diese für meinen Geschmack zu stereotype Szene bleibt in dem Buch gottseidank ein Einzelfall: Der Rest der Geschichte hat viele starke Momente, beschreibt Situationen und Szenen, die wie für einen Film gemacht sind, die man sich so gut vorstellen kann, dass sie sich einem einprägen. Was die Spannung auch aufrechterhält ist, dass im Laufe des Buchs einige Geheimnisse gelüftet werden, die die Geschichte vorantreiben. Davon lebt wiederum die Gruppendynamik zwischen den Figuren, denn sie haben sich eben doch gegenseitig nicht alles anvertraut. Schon länger haben die Freundschaften unbemerkte Risse und sie werden an dem Abend aufgedeckt.
Sprachlich ist „Die Nacht so groß wie wir“ eine Wucht; der Sprachstil ist ausgefeilt, da steckt viel Arbeit drin. Letztendlich enthält das Buch nämlich vier Erzählstile, denn Sarah Jäger schafft es, den vier erzählenden Figuren eigene Stimmen zu geben. Suse zum Beispiel hat den Vornamen aller Mitschülerinnen und Mitschüler immer passende Adjektive vorangestellt; „die kirre Bergit“ heißt es dann zum Beispiel. Bo wiederum ist derjenige, der am wenigstens sprachgewandt auftritt und manchmal fast stichpunktartig in elliptischen Sätzen berichtet. Sarah Jägers Buch ist sprachbewusst, es wirkt alles auf den Punkt gebracht, die Worte sitzen.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Die Nacht so groß wie wir“ erzählt von einer Nacht, in der fünf Jugendliche ihre Schulzeit abschließen, um danach die nächsten Schritte ins Erwachsenenleben zu gehen. Ob die gehegten Träume und Wünsche in Erfüllung gehen werden, weiß keiner der fünf. Und bevor es weitergeht, wird an dem Abend erst mal mit einigem aufgeräumt: Pavlow lässt die Wut an seinem Vater raus, Konflikte zwischen den besten Freunden brechen auf; ob die dabei entstehenden Wunden wieder verheilen, ist fraglich. Aber vielleicht ist das alles auch notwendig, um auseinandergehen zu können, um Raum für Neues zu schaffen.
Die Dynamik zwischen den Figuren bietet viel Raum für Tempo, und Sarah Jäger weiß sie gut zu vermitteln. Der Jugendroman wirkt oft fast atemlos, man hat beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass eine Explosion bevorsteht – und manches explodiert dann ja auch wirklich … Dass die Schlüsselszene mit dem Demolieren der Einrichtung im Haus von Pavlows Vater, mit der alles beginnt, ein bisschen zu klischeehaft angelegt ist, hat mich gestört – die Szene ist mir zu reißerisch. Doch der Rest des Buchs hat mir gefallen.
Ab 14 Jahren, wie der Rowohlt-Verlag auf seiner Webseite schreibt, würde ich das Buch allerdings nicht empfehlen. Eher ab 16. Und man muss sich damit anfreunden können, dass Sarah Jäger nicht einfach runtererzählt, sondern literarisch anspruchsvoll ihre Geschichte entfaltet.
(Ulf Cronenberg, 04.12.2021)
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