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Buchbesprechung: Sarah Jäger „Schnabeltier Deluxe“

Cover: Sarah Jäger „Schnabeltier Deluxe“Lesealter 15+(Rowohlt-Verlag 2022, 204 Seiten)

Man kann sich ja nicht so richtig vorstellen, dass der Roman von einem Schnabeltier handelt, oder? Die nächste Assoziation ist dann angesichts des Buchtitels, dass damit wohl ein Mensch gemeint sein könnte. Ist das ein Spitzname? Oder eine Metapher für den Charakter von jemandem? Daran schließt sich gleich die Frage an, wofür ein Schnabeltier eigentlich steht – und da kommt man unweigerlich darauf, dass das Schnabeltier eines der wenigen eierlegende Säugetier ist, also irgendwie aus der Norm fällt. Ob das was mit Sarah Jägers dritten Jugendroman zu tun hat? Wir werden es sehen …

Inhalt:

Es läuft nicht wirklich gut bei Kim. Immer wieder explodiert sie förmlich. Und als sie eines Tages im Lehrerzimmer der Schule randaliert und dabei unter anderem die Kaffeemaschine gefolgt von Untertassen und anderem aus dem Fenster wirft, wird sie vom Direktor der Schule verwiesen. Und weil Kims Ruf vorauseilt, ist auch keine andere Schule in der Stadt bereit, Kim aufzunehmen.

Kims alleinerziehende Mutter ist verzweifelt, aber sie findet eine Lösung. Ihr Ex-Freund René, der in einem Dorf lebt, kennt den Schuldirektor am Ort, und dieser würde Kim an seiner Schule eine Chance geben. Und so ist beschlossene Sache, dass Kim bei René leben und dort zur Schule geht soll. Begeistert ist Kim davon nicht, aber eine Wahl hat sie auch nicht.

Von René wird sie gut aufgenommen, doch leider wohnt auch dessen Tante Agnes mit im Haus, und die ist alles andere als angetan davon, dass Kim hier wohnen soll. Die beiden giften sich immer wieder gegenseitig an. Kim sucht sich schließlich neben der Schule einen Job und findet ihn als Verkäuferin an einer Tankstelle. Und dort taucht irgendwann Janne auf, ein Junge, der immer wieder kommt und Kim vollquasselt. Dass jemand etwas mit ihr zu tun haben will, ist für Kim eine neue Erfahrung …

Bewertung:

Wer neugierig ist, was es mit dem Buchtitel auf sich hat, der sei gleich zu Beginn vertröstet: Das muss man sich selbst erlesen – ich werde nichts verraten; und für die Auflösung muss man es bis auf die vorletzte Seite des Buchs schaffen. Ja, der Spannungsbogen in Bezug auf den Buchtitel ist gut aufgezogen (und ja nicht vorblättern, bitte!).

Nach Sarah Jägers „Die Nacht so groß wie wir“, das bis auf einen Tag genau ein Jahr zuvor erschienen ist, kommt einem „Schnabeltier Deluxe“ sehr beschaulich vor. Klar, der Einstieg ist fulminant: „Ich schaue aus dem Fenster des Lehrerzimmers, schaue auf die fliegende Kaffeemaschine und denke, dass ich mir die Sache mit dem Urknall genau so vorgestellt habe.“ (S. 7) – aber selbst dieses Wüten der Protagonistin gleich zu Beginn wird eher distanziert als temporeich erzählt.

Sarah Jägers neuer Jugendroman ist in der Ich-Perspektive von einer interessanten Erzählerin geschrieben, die auf Krawall gebürstet ist und damit nicht unbedingt eine typische Hauptfigur darstellt. Dass Kim auf einen als Leser/in trotz ihrer leicht zu entfachenden Wut, ihrer Aggressivität sympathisch wirkt, ist ungewöhnlich. Wie Sarah Jäger das schafft? Ich vermute, dass sie selbst ihre Erzählerin versteht und sie mag. Und das überträgt sich auf den Leser bzw. die Leserin.

Man würde erwarten, dass man in dem Buch eine Erklärung geliefert bekommt – am besten psychologisch fundiert –, warum Kim so aggressiv ist und sich immer wieder mit anderen anlegt. Doch es ist fast wohltuend, dass die Hintergründe hierfür nur angedeutet werden. Die Erklärung steht nicht im Zentrum der Geschichte – der Roman ist deswegen auch kein schweres Problembuch –, und trotzdem ist „Schnabeltier Deluxe“ ein psychologisches Buch, das davon berichtet, wie ein Mädchen mit explosivem Charakter irgendwann lernt, sein eigenes Verhalten in Frage zu stellen und sich anders zu verhalten versucht.

Was diese Wandlung angeht, so kommen drei Gleichaltrige ins Spiel, die Kim eben nicht – wie sie es sonst gewohnt ist – abschreiben, sondern behutsam, aber mit langem Atem den Kontakt zu ihr suchen. Neben Janne sind das noch Alex(andra Sofie) – so wird das von Kim immer geschrieben –, eine Freundin von Janne, und Miko, Kims umfreiwillige Banknachbarin in der Klasse.

Vor allem Janne ist eine faszinierende Figur, weil er mit Loser-Anteilen, aber dem Herz auf dem richtigen Fleck und als männliche Quasseltante genau die richtige Person für Kim ist. Er redet oft unbekümmert auf Kim ein, rückt ihr aber nicht zu sehr auf die Pelle, was Kim sofort den Rückzug antreten lassen würde. Überhaupt ist das Spannungsfeld der sieben Figuren, die im Buch immer wieder vorkommen, gut gewählt: von der kratzbürstigen Tante über den kurios gradlinigen Busfahrer bis hin zu den vier Jugendlichen. Dass die Figuren oft eher leise daherkommen, aber trotzdem eine große Wucht entfalten, ist ein Paradoxon, das Sarah Jäger schön inszeniert.

Wie schon in ihren beiden Vorgängerbüchern verwendet Sarah Jäger auch in „Schnabeltier Deluxe“ einen ausgefeilten Sprachstil, der gut zur Erzählerin Kim passt. Der Zynismus, mit dem sie nichts an sich zu nah herankommen lässt, wird in wunderbaren Sätzen wie „Die Mutter und ich leben in einer Fernbeziehung.“ (S. 11) ausgedrückt. Dass sich bei Kim im Laufe des Buchs was verändert, wird dann auch in Kleinigkeiten abgebildet: Heißt es anfangs immer „die Mutter“, so steht in den Kapiteln am Ende „meine Mutter“. Kim lernt sich zu den Personen in Beziehung zu setzen. Selbst die so gehasste Tante Agnes wird am Ende, weil sie ins Krankenhaus muss, mit einer Aufmerksamkeit bedacht: „Und ich habe mein dreiblättriges Kleeblatt auf den pinken Einteiler gelegt. Mehr Glück habe ich nicht, das ich ihr schenken kann.“ Schöner kann man es nicht formulieren.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ein Weilchen hat es trotz der grandiosen Einstiegssätze gedauert, bis ich in „Schnabeltier Deluxe“ angekommen bin, aber irgendwann hat mich das Buch in den Bann gezogen. Sarah Jägers neuer Roman wird von einem zynisch-aggressiven Mädchen erzählt, das einige Probleme hat, und als Leser/in darf man den sachten Wandlungsprozess von Kim verfolgen, der sehr nuanciert beschrieben wird. Aus der Stadt ins Kaff, von der Mutter zum Ex-Freund – das klingt nicht verlockend, aber für Kim ist das genau die richtige Veränderung, um wieder auf die Bahn gebracht zu werden.

Mir gefällt, wie Sarah Jäger das alles beschreibt, mit Gespür für Kleinigkeiten, aber auch für die behutsame Gesamtentwicklung. Gerne wäre ich Kim noch ein bisschen weiter gefolgt – allerdings kann man sie auch gut entlassen und hat auf den letzten Seiten das Vertrauen, dass sie das Chaos in ihrem Leben hinter sich lassen kann. Es ist immer etwas schwierig, Bücher miteinander zu vergleichen, aber mir gefällt der neue stillere Roman besser als das temporeiche „Die Nacht so groß wie wir“, wo es doch Kleinigkeiten gab, die mir einen Tick zu schrill waren. Aber das ist natürlich Geschmacksache …

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(Ulf Cronenberg, 27.09.2022)

P. S.: Das Cover von „Schnabeltier Deluxe“ ist einfach nur hinreißend mit der Bushaltestelle in der späten Abenddämmerung und dem Schnabeltier-Verkehrsschild. Sehr gelungen!


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