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Buchbesprechung: Lea-Lina Oppermann „Was wir dachten, was wir taten“

Cover: Lea-Lina Oppermann „Was wir dachten, was wir taten“Lesealter 14+(Beltz & Gelberg-Verlag 2017, 179 Seiten)

1998 geboren ist Lea-Lina Oppermann – ganz schön jung für eine Autorin – und sie studiert Sprechkunst und Kommunikationspädagogik. Ihr erst im September erschienener Debütroman hat schon einige Aufmerksamkeit und viel Lob bekommen, und ein brisantes Thema hat er allemal: Es geht um den Amoklauf an einer Schule, ein immer wieder in Jugendromanen verarbeitetes Motiv. Ich habe mehrere Romane über das Thema gelesen, mich auch von psychologischer Seite mit der Thematik beschäftigt, seit sie auch in Deutschland vor gut 15 Jahren mit dem Amoklauf von Robert Steinhäuser am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt eine erschreckende Aktualität bekommen hat.

Inhalt:

Während der Mathematikstunde hören die Schülerinnen und Schüler eine Lautsprecherdurchsage: „Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. Bitte bewahren Sie Ruhe. Begeben Sie sich sofort in einen geschlossenen Fachraum und warten Sie auf weitere Anweisungen.“ Mathelehrer Herr Filler sowie die Schülerinnen und Schüler denken sofort an einen Amoklauf und verriegeln die Tür; und ihre Vermutung wird schon kurz darauf bestätigt.

Ein Mädchen bittet mit schluchzender Stimme um Einlass ins Klassenzimmer. Die Klasse und ihr Lehrer überlegen, ob sie die Tür öffnen sollen – sie befürchten, dass sie einem eventuellen Täter die Chance geben, ins Zimmer zu kommen. Schließlich fasst sich, ohne dass die Klasse eine Entscheidung getroffen hat, ein Schüler ein Herz und lässt die Fünftklässlerin herein. Ein großer Fehler. Dass das Mädchen von einem Amokläufer mit der Waffen bedroht wurde, konnte niemand wissen, und jetzt befindet sich die Klasse mit dem Amokläufer in einem Raum.

Mit gezielten Schüssen auf das Schloss verriegelt der Täter die Tür, so dass die Klasse nicht mehr entkommen kann, und von da an beginnt für alle Anwesenden ein Albtraum. Der maskierte Täter fordert vom Lehrer, dass dieser zehn mitgebrachte Briefumschläge mit seinen Wünschen verliest. Wunsch Nummer 1 ist noch vergleichsweise harmlos: Herr Filler soll seiner Lieblingsschülerin ins Gesicht spucken. Doch schon bald werden die Wünsche immer heftiger und fordern, dass sich Schüler und Lehrer gegenseitig schikanieren und wehtun.

Bewertung:

Es gibt Bücher, die kann man nicht aus der Hand legen. Genau so ein Buch ist „Was wir dachten, was wir taten“. Lea-Lina Oppermann schafft es mit ihrem Debütroman recht schnell, einen als Leser in etwas hineinzuziehen, dem man sich dann nicht mehr entziehen kann. Man kann einfach nicht zu lesen aufhören, weil man wissen will, welche weiteren Schikanen und Rachetaten der maskierte Amokläufer in der Klasse noch platzieren wird.

Der Plot alleine würde nicht für ein packendes Buch ausreichen, sondern dazu braucht es auch ein dramaturgisches Erzählgeschick. Aus drei Perspektiven wird „Was wir dachten, was wir taten“ erzählt: Da ist zum einen der Mathelehrer Herr Filler, einerseits Vertrauenslehrer an der Schule, andererseits aber durchaus auch von einigen Schülerinnen und Schülern gehasst wegen seiner Zielstrebig- und Unnachgiebigkeit. Da sind zum anderen Mark und Fiona, beide Schüler in der Klasse. Während Fiona eine ziemlich begabte, eher unauffällige Musterschülerin ist, gehört Mark zu den schwierigen Schülern. Er hat problematische Familienverhältnisse, er macht nichts für die Schule, lehnt sich gegen seine Lehrer auf und ist auch außerhalb der Schule nicht gerade ein Musterknabe – eher im Gegenteil.

Sehr gekonnt greifen diese drei Perspektiven ineinander: Oft im fliegenden Wechsel berichten die Drei von dem, was gerade geschieht, und der Reiz entsteht dadurch, dass die drei Figuren mit ihren gänzlich verschiedenen Hintergründen vieles auch unterschiedlich sehen. Sie ergänzen sich. Das mehrperspektivische Erzählen bereichert das Buch, und es lässt zugleich die Spannung steigen. Was herauskommt, ist ein intensives Leseerlebnis, bei dem man das Gefühl hat, als Leser fast in die drei Figuren hineinzukriechen und ihre Sehnsüchte und Wünsche, aber vor allem ihre Ängste hautnah mitzuerleben. Ja, man ist all dem fast wehrlos ausgeliefert.

Ein deutliches Aber muss hier allerdings angebracht werden. Vor allem was den Lehrer angeht, so ist dessen Figur in vielem klischeehaft angelegt:

„In keinem anderen Beruf schlägt dir täglich so viel Ablehnung entgegen wie als Lehrer. Die Schüler hassen dich. Sie wollen, dass du scheiterst, und sie freuen sich, wenn du krank bist. Nie werde ich den Freudentanz vergessen, den ein paar Fünftklässler im Treppenhaus aufführten, als ein Kollege mit Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde: «Sechs Wochen kein Schwimmen! Wenn wir Glück haben, sogar acht!»“ (S. 75)

Und kurz darauf wird noch ein alter Dozent des Lehrers zitiert, der Schüler und Lehrer mit zwei Fronten wie im Krieg vergleicht … Das ist mir dann für einen vergleichsweise jungen Lehrer doch ein etwas zu stereotypisches Bild von Lehrkräften und von Schule. Und auch wie Herr Filler spricht, wirkt irgendwie oft gestelzt und old school: künstlich und nicht echt.

Fiona und Mark sind da schon differenzierter und authentischer angelegt (irgendwie auch verständlich, das dürfte eher Lea-Lina Oppermanns Welt entsprechen). So sagt Mark z. B. überzeugend:

„Wenn ihr mich fragt, ist es das, was Erwachsene am besten können: Lügen. «Oh, Sie haben aber ein schönes Kleid an», «Nein, du hast überhaupt nicht zugenommen!», «Wir sind eine glückliche Familie!».
Kinder können so was gar nicht. Die sagen, was sie denken, und werden dafür sogar noch bestraft. Erziehung nennt man so was. Glaubt mir, ich hab die Sache mitbekommen, bei vier jüngeren Geschwistern, und jedes Mal war es dasselbe.“ (S. 79)

Darüber hinaus gibt es auch in der Handlung einige Dinge, über die ich gestolpert bin. Eine anorektische Mitschülerin, bei der bisher niemand außer dem Banknachbarn etwas von der Magersucht mitbekommen hat? Na ja, so was sieht man ja dann eigentlich doch … Und als Fiona sich das erste Mal fragt, woher der Amokläufer eigentlich die ganzen Details über die Schüler und Schülerinnen sowie über Herrn Filler weiß, verschwindet die Frage nach ein paar Sätzen wieder, um erst wieder sehr viel später aufzutauchen. Nicht sehr wahrscheinlich. An dieser Frage würde man meiner Meinung nach dranbleiben.

Dass mich Dinge stören, hat sich dann übrigens in der zweiten Hälfte des Buchs wieder verloren – und ich glaube, es lag nicht daran, dass die Spannung größer wird und ich deswegen weniger auf solche Details geachtet habe. Ich habe eher den Eindruck, dass Lea-Lina Oppermann selbst näher an die Figuren herangekommen ist, als es ans Eingemachte und Existenzielle geht. Überhaupt wird das Buch gegen Ende immer besser: Es endet ziemlich plausibel und hat vorher noch eine große Überraschung parat. Beides gefällt mir. Die Identität des Amokläufers wird gelüftet, und das ist dann doch ein gelungener Paukenschlag.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. Ich habe lange nicht mehr ein Buch gelesen, das so eine große Sogwirkung auf mich hatte und das ich in drei Lese-Rutschen durchhatte. Ja, es gibt Dinge, bei denen ich mir ein stärker eingreifendes Lektorat gewünscht hätte, denn bei der Plausibilität der Handlung und in der Figurenzeichnung – vor allem beim Lehrer – liegen einige Schwächen. Das ist schade, denn ansonsten ist „Was wir dachten, was wir taten“ ein sprachlich gelungenes, ein dramaturgisch geschicktes Buch, das noch dazu in Bezug auf den Amoklauf und die Beschreibung der Jugendlichen psychologisch (fast) alles richtig macht.

Es gibt zwei Bücher, an die mich „Was wir dachten, was wir taten“ erinnert hat: An Janne Tellers „Nichts“, weil auch in Lea-Lina Oppermanns Buch einige Abgründe bei den Jugendlichen sichtbar werden – wenn auch deutlich weniger heftig als in „Nichts“ … Und dann musste ich immer wieder auch an „Tote Mädchen lügen nicht“ denken – was dort die Kassetten sind, sind hier die Wünsche in Briefumschlägen. Aber „Was wir dachten, was wir taten“ ist kein Abklatsch anderer Bücher, sondern ein eigenständiges Buch, das es in sich hat und das ich trotz der erwähnten Schwächen sehr empfehlen kann.

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(Ulf Cronenberg, 06.11.2017)

Lektüretipp für Lehrer!

Als Lektüre für den Deutschunterricht, aber auch für das Fach Ethik, ist dieses Buch ganz sicher geeignet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich viele Schülerinnen und Schüler bei diesem Buch langweilen werden; und ich glaube, dass man mit „Was wir dachten, was wir taten“ nicht nur viele gewinnbringende Diskussionen anregen kann, sondern auch interessante kreative Schreibanlässe (Tagebuch, Perspektive anderer Figuren etc.) dafür findet. Lea-Lina Oppermanns Buch hat Jugendlichen (ab Klasse 9) ganz sicher etwas zu sagen …

Kommentare (4)

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  2. Emily Carossi

    Ich finde, die 177 Seiten vergehen wie im Flug. Obwohl ich sehr selten etwas lese, hat dieses Buch mich sehr inspiriert und gefesselt. Als meine Deutschlehrerin mit dem Buch ankam, dachte ich mir nur „Ach, du Sch***e, das lese ich nie im Leben“. Hab es aber dann doch getan.

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    1. samu_bro

      Nice, mir ging es genau so!

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