(dtv 2017, 248 Seiten)
„Empfindliches Gleichgewicht“ ist Jugendroman Nummer 3 der amerikanischen Autorin Sarah N. Harvey, der ins Deutsche übersetzt wurde. Mit „Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren“, einem ernsthaften wie komischen Buch, hatte sich Sarah N. Harvey erstmals empfohlen. Der zweite Roman „Drei kleine Wörter“ war weniger witzig, hat mir aber trotzdem sehr gut gefallen. Und der neue Roman der Autorin schließt thematisch daran an: Es geht unter anderem wieder um Jugendliche, die Schlimmes in ihrem Leben mitgemacht haben.
Inhalt:
Harriet, von fast allen Menschen Harry genannt, lebt mit ihrer Mutter, die Soziologin ist und sich wissenschaftlich mit obdachlosen Jugendlichen beschäftigt, in Seattle. Ihren Vater kennt Harry nicht, weil sie durch eine Samenspende gezeugt wurde. Gestört hat Harry das noch nie. Doch ihr Leben wird etwas durcheinander gebracht, als in kurzem Abstand zwei andere Mädchen zu ihr Kontakt aufnehmen, die wie sie den gleichen Samenspender als biologischen Vater haben:
Lucy ist ein kleiner Wirbelwind, oft anstrengend, aber auch unendlich lebensfroh. Anfangs ist Harry etwas genervt von ihrer Halbschwester, doch nach kurzer Zeit weiß sie das lebendige Mädchen zu schätzen. Meredith, die zweite Halbschwester, die in Harrys Leben tritt, ist dagegen ein ziemlich kompliziertes und schwieriges Mädchen. Auf den ersten Blick wirkt sie wenig offen und recht arrogant, auf den zweiten Blick merkt man, dass Meredith einiges mitgemacht hat, was es aber auch nicht leichter macht, mit ihr zurechtzukommen.
Die Initiative ihren Spender, wie die Mädchen ihren biologischen Vater nennen, zu treffen, geht von Meredith aus, die sich viel davon verspricht, hat sie sich doch von ihren Eltern aus Enttäuschung abgewandt. Doch Harry ist eher wenig begeistert, ihren Spender kennenzulernen, und zweifelt daran, ob das eine gute Idee ist. Doch damit nicht genug. Auch wegen etwas anderem wird das Leben Harriets durch Meredith komplizierter: Meredith ist mit ihrem besten Freund Alex nach Seattle gekommen. Und Harry verguckt sich in Alex, was dieser zu erwidern scheint. Meredith wird aus Eifersucht immer giftiger zu Harry …
Bewertung:
Interessant. Über Jugendliche, die ihren Vater nicht kennen, weil sie mit Hilfe einer Samenspende gezeugt wurden, hatte ich bisher noch nie etwas gelesen. Was muss das für eine Gefühl sein, seinen Vater nicht zu kennen, aber zu wissen, dass es ihn gibt? Adpotionsgeschichten gibt es einige, aber das Thema Samenspende ist mir noch nicht untergekommen.
Bei Harriet, Lucy und Meredith in „Empfindliches Gleichgewicht“ (Übersetzung: Ulli und Herbert Günther; englischer Originaltitel: „Spirit Level“) löst das jedenfalls recht unterschiedliche Gefühle aus, mit denen sie verschieden umgehen: Die eine erhofft sich, endlich einen verständnisvollen Elternteil zu finden – nicht gerade unproblematisch, denn das kann ein Samenspender (irgendwie eine fast despektierliche Bezeichnung) wohl kaum erfüllen; die andere ist einfach nur neugierig; die dritte ist eher vorsichtig, weil sie Sorge hat, dass ihr bisheriges Lebensgleichgewicht aus dem Lot kommen könnte.
Ein spannendes Thema ist es jedenfalls, das Sarah N. Harvey aufgegriffen hat, und wie schon in ihren zwei bisherigen Büchern erschafft sie auch in ihrem neuen Roman ganz besondere Figuren. Das sind keine Abziehbilder, die da entstanden sind, sondern Personen mit Ecken und Kanten, die immer wieder an dem, was im Leben passiert, leiden, sich damit zu arrangieren versuchen, oft erst mal den falschen Weg einschlagen. Das gilt nicht nur für Harry, sondern letztendlich für alle Jugendlichen im Buch. Und auch für die Erwachsenen ist nicht immer alles einfach, auch wenn es in „Empfindliches Gleichgewicht“ mindestens eine „gute Seele“ gibt, wie ich bewundernswert selbstlose und empathische Figuren gerne nenne: Verna, für Harry fast so etwas wie eine Großmutter, hat nicht nur Harriets Mutter aufgenommen, sondern umsorgt in ihrem Friseursalon jeden Sonntag kostenlos Obdachlose und Gestrandete.
Man könnte „Empfindliches Gleichgewicht“ außerdem als ein Plädoyer für Lebensentwürfe jenseits der Norm ansehen: Harrys Mutter ist als obdachlose Jugendliche von Verna aufgenommen worden und hat so zurück in ein geordnetes und erfolgreiches Leben gefunden. Sie war immer alleinerziehend. Lucy dagegen hat ein lesbisches Elternpaar. Und Meredith kommt aus einer zusammengewürfelten Familie – sie hat ihren Eltern vor allem übelgenommen, dass diese sie erst im Alter von 12 Jahren darüber aufgeklärt haben, dass die väterlichen Gene aus einer Samenspende stammen. 0815-Familien sehen jedenfalls anders aus …
Es steckt aber noch mehr in dem Jugendroman: Irgendwann in der Mitte des Buchs stellt Harry Nachforschungen über Alex und Meredith, die bis vor kurzem woanders gelebt haben, an. Harry erfährt dabei etwas über Alex, was für mich das Buch fast hat kippen lassen. Musste es sein, dass Alex auch noch eine komplizierte Lebensgeschichte mitbringt? (Sorry, ich rede in Rätseln, aber das liegt daran, dass ich nicht noch mehr verraten will …) Für einige Seiten habe ich mir gedacht, dass die Story jetzt in Richtung Problembuch kippt – aber das passiert dann doch nicht. Sarah N. Harvey geht behutsam mit all dem um und lässt die Entwicklung der Geschichte, nicht die ganzen Gender- und Familienkonstellationsthemen das Buch bestimmen.
Zusammengehalten wird das Buch davon, dass Harry eine Figur ist, die man trotz ihrer Widersprüche und Zweifel gut verstehen kann. Ja, sie ist sympathisch menschlich. Harry versucht ihren Weg zu gehen, obwohl sie einiges durchzumachen hat, und am Ende des Romans ist sie gereift und ein Stück vorangekommen. Sie weiß, was sie will. Sarah N. Harveys Buch ist ein typischer Entwicklungsromanen.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Empfindliches Gleichgewicht“ hat mich in vielem an „Drei kleine Wörter“, den letzten Roman von Sarah N. Harvey, erinnert. In beiden Jugendromanen geht es um Menschen, die es schwer im Leben hatten und aus diesem Grund nicht einfach für Mitmenschen auszuhalten sind. Dennoch erzählt Sarah N. Harveys neues Buch ansonsten eine andere Geschichte. Es geht darum, wie es ist, seinen Vater nicht zu kennen, weil man mithilfe einer Samenspende gezeugt wurde, es wird außerdem das Thema der sexuellen Identität aufgegriffen. Letzteres ist gerade ein sehr aktuelles Thema, weil das Bundesverfassungsgericht vor ein paar Tagen festgelegt hat, dass in Deutschland in Zukunft neben weiblich und männlich ein drittes, nicht genau bestimmtes Geschlecht von Ämtern akzeptiert werden muss.
„Empfindliches Gleichgewicht“ klingt angesichts der aufgegriffenen Themen fast nach einem Problembuch – das ist es aber nicht, weil Sarah N. Harvey die Entwicklungsgeschichte Harrys ins Zentrum rückt. Und das ist gut so. Ein Buch für Jedermann ist „Empfindliches Gleichgewicht“ sicher nicht, aber wer sich für psychologische Themen interessiert, wer daran interessiert ist, wie Jugendliche mit schwierigen Situationen umgehen und sie meistern, der findet in Sarah N. Harveys Roman ein passendes, ein packendes Buch. Und was mich an dem Roman vor allem begeistert hat, ist, wie Sarah N. Harvey ihre Figuren zeichnet – das zählt eindeutig zu ihren Stärken.
(Ulf Cronenberg, 14.11.2017)