(Hanser-Verlag 2025, 265 Seiten)
Katya Balens erstes Kinderbuch „October, October“ habe ich in guter Erinnerung, auch wenn ich das Cover schrecklich kitschig fand. „Wünsche an die Wellen“, der zweite Roman der britischen Autorin, hat vom Verlag gottseidank diesmal einen wirklich hübschen Buchumschlag bekommen, der noch dazu gut zum Buch passt. Im Original trägt das Buch übrigens einen ganz anderen Titel und heißt „The Light in Everything“. Man kann sich darüber streiten, welcher Titel nun besser ist. Vielleicht sogar, finde ich nach dem Lesen des Buchs, der deutsche …
Inhalt:
Zofia lebt mit ihrem Vater allein in einem Häuschen direkt am Meer, ihre Mutter ist bei einem Unfall ums Leben bekommen. Die beiden kommen gut miteinander zurecht, auch wenn Zofia ziemlich impulsiv sein kann und gerne im Mittelpunkt steht. Mit ihrer besten Freundin Dommo verbringt sie viel Zeit am Meer, und ihr großes Ziel ist es, schwimmend wie so viele andere schon, den Felsen namens Fidschi vor der Küsten zu erreichen. Wer es geschafft hat, stellt dort ein Fähnchen auf.
Tom dagegen ist gänzlich anders. Er hat viele Ängste, kann nachts nicht gut schlafen, schon gar nicht im Dunkeln. Es müssen immer mehrere Lampen an sein. Er hat Strategien, wie er sich beruhigen kann, die einigermaßen helfen: So faltet er mit viel Hingabe Origamifiguren. Tom lebt mit seiner Mutter alleine in einer gut funktionierenden Symbiose; doch als diese erzählt, dass sie ihm jemanden vorstellen müsse, gefällt ihm das gar nicht. Zugleich wirkt seine Mutter, weil sie frisch verliebt ist, aber so glücklich wie lange nicht mehr.
Das alles ist nur der Anfang einer großen Veränderung: Denn Toms Mutter ist schwanger, und so ziehen die beiden bei Zofia und ihrem Vater Marek, der Toms Mutter neuer Freund ist, ein. Das läuft jedoch für Tom und Zofia alles andere als gut. Zofia ist aus Eifersucht unausstehlich, gerade Tom gegenüber. Aber auch seiner Mutter zeigt Zofia die kalte Schulter.
Bewertung:
„Wünsche an die Wellen“ (englischer Originaltitel „The Light in Everything“; Übersetzung: Birgitt Kollmann) – das fällt sofort auf – wird konsequent zweiperspektivisch erzählt. Es beginnt Zofia, drei Seiten später fährt Tom im nächsten Kapitel fort, und mit dieser Schlagzahl geht es abwechselnd weiter. Kapitel, die sechs oder mehr Seiten haben, kann man da schon als lang bezeichnen. Manche Kapitel füllen nicht mal eine ganze Seite, die meisten bestehen aus 2 bis 4 Seiten.
Die beiden Erzählstränge sind anfangs nicht erkennbar miteinander verwoben – man verfolgt die Leben von Tom und Zofia, die gänzlich unterschiedlich sind, einige Zeit, und als dann Zofias Vater und Toms Mutter ihren Kindern jeweils jemanden vorstellen wollen, ist natürlich klar, worauf es hinausläuft: dass die beiden Eltern sich kennengelernt haben, ein Paar sind. Und wegen der Schwangerschaft dauert es nicht lange, bis Tom und seine Mutter zu Zofia und Marek ins Haus am Meer ziehen. Die beiden Kinder sind alles andere als begeistert, und da hilft nur zum Teil, dass die beiden Erwachsenen sich um die Kinder des/der jeweils anderen bemühen.
Katya Balens Buch erzählt sehr genau, wie schwer es sein kann, wenn eine Patchwork-Familie sich zusammenraufen muss. Bei Tom kommt außerdem hinzu, dass er mit seinem Vater, von dem sich die Mutter schon vor einiger Zeit getrennt hat, wirklich schlimme Sachen erlebt hat. Daher kommen auch seine großen Ängste. Und Zofia, der Wirbelwind, zeigt angesichts ihrer großen Eifersucht, die sie empfindet, absolut keine Rücksicht auf Tom und seine Ängste. Im Gegenteil, es gibt mehrere Situationen, wo Zofia ihre Wut an Tom auslässt und genau diese Ängste triggert.
Dass hinter all dem auch bei Zofia Ängste stehen, ist dem Mädchen nicht bewusst. Sie befürchtet, dass ihr Vater Tom und dessen Mutter lieber mag als sie. Diese Angst kanalisiert Zofia in ihrem aggressivem Verhalten. Psychologisch ist das durchaus plausibel – es gibt entsprechende Theorien, die diesen Teufelskreislauf beschreiben: Man verhält sich aus Angst aggressiv, fühlt sich aber dann noch weniger geliebt, weil man für sein Verhalten kein Verständnis erfährt.
So richtig gepackt hat mich „Wünsche an die Wellen“ auf den ersten gut 50 Seiten nicht; das hat sich erst geändert, als die beiden Erzählstränge zusammenlaufen und Tom mit seiner Mutter bei Zofia lebt. Die Patchwork-Dynamik, vor allem zwischen Tom und Zofia, tut dem Buch gut. Was mir dabei besonders gefällt, ist, dass hier nichts beschönigt wird. Das gilt vor allem für Zofias wilde Seite, ihre Wut und Rachegedanken – Katya Balen kann sehr gut beschreiben, was in dem Mädchen vorgeht. Für mich ist die britische Autorin (wie die Niederländerin Anja Woltz, an die ich da auch denken muss) eine Meisterin darin, Wut in Mädchenfiguren darzustellen. Doch auch Tom mit seinen Ängsten wird einfühlsam dargestellt, und was hinter seinen Ängsten steht, wird im Buch erst nach und nach aufgedeckt.
Gut eingefädelt ist auch das Auf und Ab zwischen Zofia und Tom. Da gibt es später im Buch einen Moment, wo Tom und Zofia, beide aus guten Gründen schlaflos, nachts auf dem Sofa das erste Mal Gemeinsamkeiten entdecken, dem bzw. der anderen gegenüber etwas von sich preisgeben, und man meint, dass sich nun der Umschwung vollzogen hat. Doch schon am nächsten Tag bröckelt die Harmonie wieder.
Sprachlich ist all das gut gefasst. Die Gefühle und Gefühlslagen von Tom und Zofia sind – Ängste wie auch die Wut – einfühlsam und glaubwürdig dargestellt. Und nebenbei wird im Buch auch mit so einigen Motiven gearbeitet und die Geschichte dadurch vertieft: allem voran die Wellen und das Meer, aber auch die Origami-Kraniche, die am Ende eine große Rollen spielen.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. In ihrem neuen Kinderroman hat Katya Balen Grundthemen aufgegriffen, die schon in ihrem Debütroman „October, October“ enthalten waren: getrennte Eltern, neue Lebenssituationen, gegen die sich Kinder erst mal wehren, an die sie sich aber gewöhnen müssen. Katya Balen versetzt sich in beiden Büchern sehr gut in die Gefühlswelt von Kindern, die Ängste haben, die abwehrend sind, die Wut in sich tragen. Die Autorin ist nah an ihren Figuren, psychologisch ist das alles sehr dicht.
Neu in „Wünsche an die Wellen“ ist vor allem das Patchworkfamilien-Thema, und wie Katya Balen dieses Sich-zusammenraufen-müssen darstellt, hat mir gut gefallen. Im Buch ist Platz für all die negativen Gefühle, die da auftreten, für die Folgen im Handeln die diese Gefühle haben. „Wünsche an die Wellen“ wäre aber kein Kinderbuch, wenn es nicht auch Lösungen aufzeigt. Doch diese werden, und das halte ich der Autorin zugute, eben nicht schnell, sondern erst nach einigem Auf und Ab und mit viel Ruhe und Kraft, die von den Erwachsenen ausgeht, erreicht. Ich finde es gut, dass es Kinderbücher mit Erwachsenen gibt, die sich den Problemen stellen und sich bemühen – nicht selten kommen Erwachsene in Büchern auch schlecht weg.
Und so bleibt am Ende: Auch wenn ich mich mit dem Buch am Anfang nicht so ganz leicht getan habe, alles in allem ist der neue Roman von Katya Balen ein Kleinod, das von Seite zu Seite besser wird. Selten wurden die Schwierigkeiten für Kinder in einer Patchworkfamilie so intensiv beschrieben, und man hat als Leser/in für beide Verständnis: für den ängstlichen Tom und die wütende Zofia.
(Ulf Cronenberg, 19.01.2025)