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Buchbesprechung: K. J. Reilly „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“

Cover: K. J. Reilly „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“Lesealter 14+(dtv 2024, 338 Seiten)

Den Titel finde ich ja ziemlich cool, auch wenn ich mir, ehrlich gesagt, nicht so richtig vorstellen konnte, um was es in dem Jugendroman gehen könnte. K. J. Reilly ist ein Deutschland eine bisher unbekannte Autorin, und das vorliegende Buch ist, glaube ich, ihr Debütroman (inzwischen ist von der Autorin auf Englisch ein zweiter Roman erschienen). Früher hat K. J. Reilly Psychologie studiert, außerdem für mehrere Werbeagenturen gearbeitet – beides ja nicht die schlechtesten Voraussetzungen, wenn man dann einen Jugendroman schreiben will.

Inhalt:

Ashers Mutter ist vor einem guten Jahr bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen: Ein betrunkener Lastwagenfahrer hat den Unfall verursacht, und Asher träumt ständig in ähnlichen Variationen von dem Unfall. Zurecht kommt er mit der Situation auch ein Jahr später gar nicht, und in seinem unbändigen Hass auf den Lastwagenfahrer hegt er den Wunsch, diesem etwas anzutun. Schlimm ist für Asher, dass er sich für den Tod seiner Mutter verantwortlich fühlt, denn sie ist in ein Einkaufszentrum gefahren, um ihm neue Fußballschuhe zu kaufen, die er am nächsten Tag für ein wichtiges Spiel gebraucht hatte. Seine alten Schuhe waren geklaut worden.

Eher mit Widerwillen besucht Asher im Krankenhaus eine Trauergruppe mit Jugendlichen in seinem Alter, die ebenfalls Angehörige verloren haben. Asher ist in der Gruppe widerspenstig, gibt wenig Preis, provoziert andere eher, als dass er sich öffnet und verständnisvoll zeigt. Und trotzdem bewegt sich nach und nach in ihm etwas, weil die Therapeutin richtige Worte findet und ihm zugewandt bleibt. Warum er schon einige Zeit später noch zwei weitere Trauergruppen besucht (darunter auch eine für ältere Menschen), weiß Asher selbst nicht so recht.

In der Trauergruppe für ältere Menschen lernt Asher Henry kennen, und er beschließt für Henry etwas Gutes zu tun. Deswegen besucht er ihn zu Hause und hilft ihm im Garten. Außerdem lernt Asher in der jugendlichen Gruppe Will und Sloane kennen, die ihren Bruder bzw. den Vater verloren haben. Als Henry den Wunsch äußert, dass er mit der Urne seiner verstorbenem Gattin in Memphis das Elvis-Presley-Museum besuchen will, sieht Asher seine Chance: Er will sich an dem betrunkenen Lastwagenfahrer, der aus Memphis stammt, rächen. Weil er sich nicht danach fragen traut, entwendet Asher kurzerhand den Wagen seines Vaters; und auch Will und Sloane sind bei der Reise mit dabei – aus unterschiedlichen Gründen.

Bewertung:

So ganz einfach hat es mir das Buch zu Beginn nicht gemacht: Man wird auf den ersten Seiten mit der Situation konfrontiert, dass Asher durch einen Autounfall seine Mutter verloren hat; aber es ist etwas anstrengend, immer wieder zu lesen, wie lange auf die Minute genau der Autounfall her ist. Asher memoriert das ständig. Und in der Trauergruppe, in die er geht, tritt er auch nicht gerade sympathisch auf. Gut, dass die Gruppenleiterin damit umzugehen weiß und sich nicht provozieren lässt, sondern trotzdem an Asher festhält. Kurz vor Seite 100 habe ich mich jedenfalls gefragt, ob ich das Buch zur Seite legen will. Doch ich habe es gottseidank getan.

„Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“ (Übersetzung: Ute Mihr; amerikanischer Originaltitel: „Four for the Road“) wird nämlich noch ein richtig gutes Buch; und die Veränderung vollzieht sich, als Asher Henry aus der Trauergruppe für ältere Menschen besucht, ihn aufmuntern will, indem er mit ihm in dessen Garten Platterbsen pflanzt. Henry trauert um seine Frau Evelyn (Asher fühlt sich wohl unter anderem zu Henry hingezogen, weil seine Mutter den gleichen Vornamen hatte) und trägt Evelyns Urne ständig mit sich herum. Weil Henry und seine Frau unbedingt noch nach Memphis ans Grab und ins Museum von Elvis Presley fahren wollten, entsteht die Idee, dass Asher ja mit Henry und der Urne von dessen Frau dorthin reisen könnte.

Es wirkt dann doch etwas stark konstruiert, wenn auch Will und Sloane aus Ashers Trauergruppe mit von der Partie sein wollen, weil sie zufälligerweise ebenfalls mit Memphis etwas verbindet (die Beweggründe von Sloane und Will seien hier jedoch nicht ausgeplaudert). Asher hat sich auf die Reise mit einem perfiden Racheplan an dem LKW-Fahrer vorbereitet: Über soziale Netzwerke hat er Kontakt mit Grace, der Tochter des LKW-Fahrers, aufgenommen, sich mit ihr angefreundet und ihr versprochen, sie auf einen Ball zu begleiten. Und Grace ist bezüglich Ashers Motiven völlig im Unklaren …

„Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“ wird, als die vier mit dem Auto von Ashers Vater aufbrechen und unterwegs sind, zu einem skurrilen Roadmovie-Buch. Ihre gemeinsame Reise steht nicht nur metaphorisch für Trauerarbeit und Verarbeitung, sondern sie wirkt auch tatsächlich heilend auf sie. Die Ideen, die K. J. Reilly, als die vier unterwegs sind, einfließen lässt, sind immer wieder gewitzt und haben Esprit. Um ein Beispiel zu nennen: Henry, Asher, Will und Sloane lassen in Restaurants für Evelyns Urne nicht nur ein Tischplatz reserviert, sondern es wird für sie auch noch ihr Lieblingsessen bestellt.

Das Buch wir dabei an einigen Stellen durchaus sentimental, ohne es allerdings zu übertreiben – zum Beispiel, wenn Sloane und Asher sich auf der Autorückbank unterhalten und dabei näherkommen. Es sind interessante Gespräche, die nicht nur die beiden in dem Buch führen, in denen lange aber auch vieles verschleiert wird. Vieles, was passiert ist, was die vier umtreibt, wird zurückgehalten und nicht angesprochen – es dauert lange, bis sie sich gegenseitig von den Dingen, die sie erlebt haben und die sie wirklich beschäftigen, erzählen.

Meine Lieblingsstelle im Buch ist, als die vier wirklich in Memphis ankommen, verspätet vor dem Haus des LKW-Fahrers stehen, und Grace in Erscheinung tritt. Grace ist, finde ich, eine herausragende Figur: ein selbstbewusstes Mädchen, das empathisch und zugleich zupackend ist. Der Wandel von der erst enttäuschten Grace zur aktiven Grace vollzieht sich – was für eine coole Szene –, indem sie die Nadeln aus den hochgesteckten Haaren zieht, so dass ihre Haare wieder wallen, und indem sie aus dem Ballkleid schlüpft.

Es gibt noch viele weitere Szenen, die man sich so richtig gut in einem Film vorstellen kann; und wäre ich Regisseur würde ich wirklich in Erwägung ziehen, die Geschichte zu verfilmen. Aus den vier so unterschiedlichen Figuren, den Erlebnissen auf der Fahrt nach Memphis und so vielem mehr könnte man einen ungewöhnlichen Film drehen. Ja, an einigen Stellen trägt das Buch etwas dick auf; aber das wird durch die wahrhaftigen Momente und skurrilen Ideen, die der Roman enthält, wettgemacht.

Was mich an dem Buch alles in allem am meisten gestört hat, war, dass Asher in seiner Trauerdarstellung doch etwas über das Ziel hinausschießt. Es wirkt einfach nicht glaubwürdig, wie und wie viel er ständig über seine Trauer spricht. Viel wahrscheinlicher wäre doch, dass ein Junge in Ashers Alter sich zurückzieht und verstummt, anstatt sich in der Trauer zu suhlen.

Fazit:

4 von 5 Punkten. K. J. Reillys Roman war für mich eine zwiespältige Erfahrung: Das Buch hat Schwachstellen, aber es hat auch viele starke Seiten. Letztendlich habe ich das Buch, nachdem ich über die ersten 100 Seiten hinweg war, doch genießen können; und ich habe die Bilder der vier im Auto, an den Tankstellen, im Diner ständig vor mir gesehen, sah vieles wie einen Film vor mir. Das Gespür von K. J. Reilly für dramaturgisch wie metaphorisch bedeutungsvolle Szenen (vor allem auf den letzten 50 Seiten, als Grace auftritt) habe ich beim Lesen immer wieder bewundert.

„Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“ ist manchmal ein zu weitschweifiges Buch über die Trauer eines Jugendlichen, dem an einigen Stellen Kürzungen gutgetan hätten. Doch was mir gefällt, ist, dass an vier Figuren dargestellt wird, wie unterschiedlich Trauer aussehen kann. Jeder Mensch trauert auf seine Weise – das ist eine Botschaft des Buchs. Eine unerwartete Wendung hat das Buch kurz vor dem Ende schließlich auch noch zu bieten. Hier bin ich mir jedoch nicht so ganz schlüssig, wie psychologisch plausibel sie ist. Sei’s drum. Wegen der Stärken des Buchs, kann man über dessen Schwächen durchaus hinwegsehen.

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(Ulf Cronenberg, 05.01.2025)
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