(Hanser-Verlag 2021, 424 Seiten)
„Baby & Solo“ – was für ein Titel. Klingt irgendwie nach Liebesgeschichte, aber das entspricht mitnichten dem Hauptthema des Jugendromans … Die außer dem Jungen und dem Mädchen zu sehende Filmrolle gibt ein weiteres Puzzleteil zum Inhalt Preis – aber letztendlich steht etwas anderes im Mittelpunkt. Dazu gleich mehr. Über die Autorin Lisabeth Posthuma ist nicht viel bekannt: Sie lebt in Michigan, hat als Lehrerin, Fotografin gearbeitet, in einer Videothek gejobbt (was für den Roman von Bedeutung ist) und der hier vorliegende Roman ist ihr Jugendbuchdebüt …
Inhalt:
Joel war längere Zeit in einer psychiatrischen Klinik, besucht nach wie vor regelmäßig einen Psychiater, und seine anstehende Entwicklungsaufgabe soll sein, den nächsten Schritt in Richtung Normalität zu gehen. Seine Idee: Er will sich einen Job suchen, was sowohl der Psychiater als auch Joels Eltern gut finden. Mit ein bisschen Vitamin B kann er nach einem Vorstellungsgespräch als Verkäufer in einer Videothek anfangen. Schon nach kurzer Zeit liebt Joel diesen Job und dort bekommt er einen neuen Namen, weil es bei dem Mitarbeiter/inne/n der Videothek üblich ist, sich eine Filmfigur als Namenspaten zu suchen. So wird aus Joel als Star-Wars-Fan in Anlehnung an Han Solo „Solo“ …
In der Videothek ist einiges los – nicht nur der Kunden wegen, sondern auch was die Dynamik zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrifft. Joel versteht sich aber mit allen gut. Am meisten zu tun hat er mit Scarlett, seiner Vorgesetzten, die mit ihren weiblichen Reizen einigen Männern den Kopf verdreht. Baby, eine andere Kollegin, kann Scarlett dagegen überhaupt nicht ausstehen; als Joel in der Videothek zu arbeiten beginnt, fällt Baby vor allem auf, weil sie oft kübelnd über der Kloschüssel hängt.
Scarletts Sprüche von wegen Essstörung werden jedoch bald als falsch entlarvt: Baby ist schwanger, wie sie Joel anvertraut. Sie bittet ihn – denn mit dem Vater des Kindes, einem früheren Mitarbeiter, hat sie nichts mehr zu tun –, sie in eine Klinik zu fahren. Doch statt dort wie eigentlich geplant abtreiben zu lassen, entschließt Baby sich spontan, das Kind zu behalten. Joel weiß somit ziemlich viel von Babys Leben, doch es kriselt bald zwischen den beiden, weil Joel seinerseits nichts von seinem Leben und seinen Problemen preisgibt …
Bewertung:
„Baby & Solo“ (Übersetzung: Sophie Zeitz; amerikanischer Originaltitel: „Baby & Solo“) spielt im Jahr 1996; damals gab es noch kein Streaming, sondern richtige Videotheken mit VHS-Kassetten. Warum Lisabeth Posthuma ihr Buch in diese Zeit verlegt, kann man sich denken: Sie kennt das Ambiente einer Videothek, weil sie damals selbst in einer gearbeitet hat. Als Grundlage für eine Geschichte ist das natürlich gut, weil ein Roman dadurch authentischer wird.
Thema des Buchs ist jedoch etwas anderes – es geht hauptsächlich darum, wie Joels Weg von einer psychischen Erkrankung zurück in die Normalität verläuft: Lange wird darum ein Geheimnis gemacht, warum Joel eigentlich in einer psychiatrischen Klinik war – als Leser/in muss man sich anfangs mit ein paar Andeutungen zufrieden geben. Seine psychischen Probleme werden dann aber irgendwann beschrieben, doch was Auslöser für die Erkrankung war, bleibt fast bis zum Ende vage – man hat als Leser/in jedoch so seine Vermutung (und ich lag nicht falsch). Dieses lange Versteckspiel bezüglich der Hintergründe ist vielleicht das Einzige, was mich an dem Buch ein klein wenig gestört, weil es ein wenig übertrieben wird – aber da Joel als Ich-Erzähler auftritt und er das, was damals passiert ist, von sich fernhalten und nicht hochholen will, passt es doch zum Plot.
Davon abgesehen erzählt „Baby & Solo“ eine gelungene Geschichte, die viel zu bieten hat und in der keine Langeweile aufkommt, auch wenn es keine richtigen Höhepunkte gibt. Was mir vor allem gefallen hat, ist die Dynamik zwischen den Figuren. Es sind nicht nur Joel und Baby (die übrigens eigentlich Nicole heißt), die zusammen einige Auf und Abs erleben; nein, da ist noch deutlich mehr in Bewegung: Scarlett und Baby sind sich, wie schon erwähnt, gar nicht grün – was dahintersteht wird erst recht spät im Buch aufgeklärt. Dann ist da auch noch Maverick, der Joel ziemlich Angst macht, weil er schwul ist und Joel gut zu finden scheint. Und schließlich handelt der Roman noch von der prekären Dynamik in Joels Familie.
Wie die Familie Joels beeinträchtigt ist, wird sehr plausibel beschrieben. Die Mutter raucht Kette, sie hat ständig Angst, dass Joel rückfällig wird, versucht alles zu kontrollieren. Joels Vater ist da deutlich lockerer. Dass die drei nie über die Vergangenheit und das, was passiert ist, reden, ist auf den ersten Blick nicht so ganz zu verstehen, aber wohl nicht so ungewöhnlich, wenn Menschen traumatisiert sind und das Schmerzauslösende von sich wegzuhalten versuchen. Ein gesunder Umgang damit (das ist klar) sähe natürlich anders aus … Im Laufe des Romans macht jedoch zumindest Joel Schritte in die richtige Richtung.
Was das Buch ausmacht, ist, dass die Geschichte um Solo und Baby erfrischend erzählt wird: Die Dialoge sind unterhaltsam, die Interaktion zwischen den Figuren zeigt, dass zwischen Menschen oft vieles kompliziert ist, und es passieren einige unerwartete Dinge, die einen als Leser/in bei der Stange halten. Wenn Joel zum Beispiel Babys ungewöhnliche Mutter in einer seltsamen Umgebung kennenlernt, so hat das ebenso seinen Reiz wie die Szene, in der die nicht gerade nüchterne Scarlett Joel verführen will.
Doch alles in allem lebt das Buch von den beiden Hauptfiguren. Joel ist ein Junge, der nicht nur nett und freundlich ist, sondern auf seine Art tapfer; und gerade mit den Unsicherheiten, die er hat, kommt er sympathisch rüber. Baby ist im Vergleich zu ihm wesentlich weniger ausgeglichen: Sie ist menschenscheu, verurteilt andere schnell und zeigt sich oft wenig zugänglich. Doch auch Baby sammelt mit ihrer ehrlichen und unverstellten Art viele Sympathiepunkte.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Mit „Baby & Solo“ hat Lisabeth Posthuma ein Buch geschrieben, das ich trotz seiner über 400 Seiten ohne Augenblicke der Langweile gelesen haben. Die Geschichte ist genauso sympathisch wie ihre Figuren, und man wird, so wie Joel, schnell im Mikrokosmos der Videothek heimisch. Ja, man riecht beim Lesen förmlich den Mief der Videoregale und des an manchen Stellen sicher abgewetzten Teppichbodens.
Dass es nebenbei um die Schwangerschaft einer Jugendlichen geht, aber auch um andere schwierige Themen, stört ganz und gar nicht; denn Lisabeth Posthuma – und das ist nicht selbstverständlich – bekommt es hin, dass der Roman trotz dieser Themen leichtfüßig bleibt. Das liegt auch daran, dass Joel und Baby sich mit den Krisen in ihren Leben auseinandersetzen und letztendlich auch – trotz einiger Widrigkeiten – den Weg aus ihnen heraus finden. Das im Großen und Ganzen gute Ende wirkt somit nicht mal aufgesetzt. So muss es sein!
(Ulf Cronenberg, 10.10.2021)
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