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Buchbesprechung: Jennifer Brown „Die Hassliste“

Cover Jennifer BrownLesealter 14+(dtv 2010, 454 Seiten)

Das Thema Amoklauf hat in den letzten Jahr leider deutlich an Präsenz gewonnen – und das gilt nicht nur für die USA, sondern inzwischen auch für Deutschland. Spätestens der Amoklauf von Robert Steinhäuser in Erfurt am 26.04.2002 muss als der Zeitpunkt gelten, ab dem man nicht mehr sagen konnte, solche Taten werden nur in den USA verübt.

Die amerikanische Autorin Jennifer Brown hat in ihrem Erstlingswerk „Die Hassliste“ das Thema aufgegriffen. Es geht um die Hintergründe eines Amoklaufs, vor allem aber auch um dessen Verarbeitung.

Inhalt:

Valeries Freund Nick hat in der Garvin Highschool sechs Menschen mit einer Pistole getötet und weitere verletzt, bevor er Selbstmord begangen hat, indem er die Pistole gegen sich selbst gerichtet hat. Dass bei dem Amoklauf nicht noch mehr Menschen erschossen wurden, ist letztendlich Valerie zu verdanken, die sich Nick in den Weg gestellt hat, als er auf Jessica schießen wollte. Nick hat Valerie, die fast verblutet wäre, dabei – wohl unabsichtlich – ins Bein geschossen. Dennoch glauben viele Mitschüler und Eltern, dass Valerie die Tat Nicks mit geplant hat und damit eine Mitverantwortung trägt.

Nach einer längeren Zeit im Krankenhaus, darunter auch einer schrecklichen Woche in der Psychiatrie, kehrt Valerie wieder nach Hause zurück. Immerhin hat die Polizei, nachdem eine Schülerin für Valerie ausgesagt hat, die Ermittlungen auf Mittäterschaft inzwischen eingestellt – doch selbst kommt das Mädchen noch immer mit der Tat Nicks nicht zurecht. Valerie fragt sich immer wieder, ob sie nicht mitschuldig ist – zum einen, weil sie und Nick eine Liste mit Personen geführt haben, die sie hassen, weil sie ihnen übel mitgespielt haben, zum anderen, weil sie nicht geahnt hat, dass Nick auf andere schießen könnte.

Wurde Valerie in der Psychiatrie überhaupt nicht geholfen, so bekommt sie durch Dr. Hieler, einen Psychologen, schließlich doch eine angemessene Hilfe. Er begleitet Valerie und hilft ihr, Schritt für Schritt mit Nicks Tat zurechtzukommen und sie zu verarbeiten. Nach mehreren Monaten soll Valerie schließlich wieder in die Schule gehen. Vor dem Tag hat sie jedoch große Angst hat, weil sie nicht weiß, wie ihre Mitschüler darauf reagieren werden …

Bewertung:

Es sind in den letzten Jahren einige Jugendbücher erschienen, die sich mit dem Thema Amoklauf beschäftigen – ein neues Thema hat Jennifer Brown also nicht aufgegriffen. Ein einfaches Thema, weil es viel Sensibilität und Differenziertheit verlangt, ist das jedoch nicht, und grundsätzlich hat Jennifer Brown das Thema gekonnt aufgegriffen. In „Die Hassliste“ geht es weniger um die Tat und ihre Hintergründe (hier bleibt das Buch eher blass) als um die Verarbeitung des Amoklaufs durch Valerie.

Wahrscheinlich ist es durchaus eine sinnvolle Entscheidung, nicht die Tat ins Zentrum des Buches zu stellen, sondern deren Auswirkungen und die Zeit danach. Denn das Denken eines Menschen, der sechs Menschen umbringt, abbilden zu können, ist sicher schwierig, will man nicht nur Klischees bedienen. Jennifer Brown verschweigt die Tat Nicks nicht, sie schildert sie jedoch jugendgerecht eher aus der Distanz, indem Zeitungsberichte darüber wiedergegeben werden. Was mich an „Die Hassliste“ (Übersetzung: Beate Schäfer) dabei am meisten gestört hat, ist, dass der Amoklauf nicht plausibel genug erklärt wird. Klar, es wird beschrieben, dass Valerie eine Veränderung bei Nick bemerkt hat, der sich von ihr immer mehr zurückgezogen hat – aber mal abgesehen davon, dass Nick von anderen getriezt, gehänselt und geschnitten wurde, wirkt der Amoklauf nicht ausreichend motiviert.

Diesem Kritikpunkt sind jedoch viele positive Dinge gegenüberzustellen. Jennifer Browns Buch ist mit einer immer wieder aufgelockerten Erzählperspektive geschrieben: Die Ich-Erzählung Valeries wird durch fiktive Zeitungsausschnitte ergänzt, und die Erzählung springt häufig von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück.

Gut gefallen hat mir auch, wie der Bewältigungsprozess von Valerie beschrieben wird. In vielen Büchern kommen Psychologen nicht gerade gut weg, werden oft klischeehaft beschrieben – „Die Hassliste“ setzt sich wohltuend davon ab. Dr. Hieler (nomen est omen: Der Name ist sicher bewusst vom englischen „to heal“ abgeleitet) ist kein verschrobener Psychologe, sondern steht Valerie hilfreich zur Seite, ist einfühlsam und bereitet sie behutsam auf die Rückkehr in die Schule vor.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Die Stärken von Jennifer Browns Jugendroman über einen Amoklauf liegen darin, dass er plausibel von Valeries Bewältigungsprozess berichtet. Vielschichtig wird beschrieben, wie Valerie über die Tat ihres Freundes Nick hinwegzukommen versucht, und sehr differenziert werden auch die Reaktionen der Umwelt zusammengefasst, die von Vorverurteilung bis zu mutiger Rückendeckung reichen. Oberflächlicher bleibt das Buch jedoch leider, was die Motive für den Amoklauf angeht. Für mich war die Tat Nicks durch das, was im Buch berichtet wird, nicht so ganz nachvollziehbar. Letztendlich wird Nick nicht als typischer Gewalttäter beschrieben und kommt somit fast etwas zu gut weg.

Alles in allem ist „Die Hassliste“ dennoch ein packendes Buch, das sich größtenteils differenziert und gekonnt mit dem Thema Amoklauf auseinandersetzt. Mit anderen Büchern zu dem Thema kann Jennifer Browns Jugendroman letztendlich mithalten, für Jugendliche ab 13 oder 14 Jahren behandelt die Autorin das Thema in jedem Fall ausreichend feinfühlig.

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(Ulf Cronenberg, 14.10.2010)

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Kommentare (0)

  1. Sascha

    „Wahrscheinlich ist es durchaus eine sinnvolle Entscheidung, nicht die Tat ins Zentrum des Buches zu stellen, sondern deren Auswirkungen und die Zeit danach. Denn das Denken eines Menschen, der sechs Menschen umbringt, abbilden zu können, ist sicher schwierig, will man nicht nur Klischees bedienen.“

    Auf jeden Fall! Ich persönlich bin mittlerweile auch schon ziemlich abgestumpft und (so kalt das vielleicht für manche klingen mag) genervt von diesen ewigen Spekulationen und Schuldzuweisungen und dem Reproduzieren der immer gleichen Allgemeinplätze, das von den Medien in solchen Fällen immer wieder exzessiv betrieben wird, und an der Tat als solcher eh nichts mehr ändert. Sicher ist die Beschäftigung mit den Hintergründen einer solch schrecklichen Tat an sich sinnvoll und angebracht, auch um weitere Taten zu verhindern, aber das sollte dann doch bitte qualifizierten Fachleuten überlassen werden, statt es in der Öffentlichkeit ewig breitzutreten, denn das bringt nichts, im Gegenteil. Ich würde sogar soweit gehen, zu behaupten dass diese intensive Berichterstattung und Thematisierung der Taten und über die Täter einen weitaus größeren Teil dazu beitragen, potenzielle Täter „anzustacheln“ als wir uns bisher eingestehen wollen. Das würde auch erklären, warum Amokläufe immer häufiger und in immer kleineren Abständen vorkommen. Von daher war ich zunächst nicht sicher, was ich von einem weiteren Buch mit dieser Thematik halten soll, aber es freut mich, dass dieses Buch anscheinend andere und neue Akzente setzt, und das macht mich neugierig.

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  2. Lisa (15)

    Ich habe das Buch gelesen und fand es super – es gibt einen ziemlich überraschenden und schönen Schluss. Die Zeitungsartikel beschreiben auch immer, was der Rest der Welt über diesen Amoklauf denkt und spiegelt meiner Meinung nach ziemlich gut die Realität wider. Aber mich stören die Zeitsprünge ein wenig: Erst ist es Oktober und im nächsten Teil, in dem es um die Gegenwart geht, ist es schon Februar. Das ist immer recht unerwartet, denn man wartet eigentlich noch auf eine Fortsetzung der Handlung im Oktober. Dass so viele mit schlimmen Verletzungen überlebt haben, kommt mir etwas unrealistisch vor, und wer überhaupt gestorben ist, war mir nie wirklich klar. Aber im Großen und Ganzen ist es ein tolles Buch, das ich nur weiterempfehlen kann.

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