(Gerstenberg-Verlag 2024, 313 Seiten)
„Train Kids“ – 2015 veröffentlicht – war nicht Dirk Reinhardts erster Jugendroman, aber der erste, den ich gelesen habe. Und seitdem lese ich alle Jugendbücher, die von ihm neu erscheinen. Er greift in seinen Büchern nicht nur gesellschaftliche und politische Themen auf, die brisant sind und die Jugendliche interessieren, sondern ihm gelingt es auch, sie in eine spannende Geschichte zu stecken. „No Alternative“, das neue Buch, fällt allein schon mal wegen des ziemlich knalligen Covers auf – noch dazu ist der Titel-Schriftzug auch seitlich auf den Buchschnitt gedruckt.
Inhalt:
Emma will nicht mehr zusehen, dass die Politik und die Konzerne weiterhin viel zu wenig für Umwelt- und Klimaschutz tun; es werden viele Versprechungen gemacht, aber in der Realität tut sich fast gar nichts. Zur radikalen Bewegung No Alternative, die in kleinen unabhängigen Gruppen organisiert ist, kommt sie auf Umwegen. Ihr Entschluss ist vor allem eine Folge davon, dass ihr Freund Patrick, mit dem sie sich als Praktikantin bei einem Unternehmen, das Tierversuche durchführt, eingeschleust hat, ums Leben gekommen ist. Beide wollten das Unternehmen illegaler Tierversuche überführen, doch weil etwas schief gelaufen ist, mussten sie fliehen; und Patrick starb dabei.
Berühmt wird Emma in der Szene, weil sie in Frankfurt den Messeturm bestiegen hat und auf dessen Spitze das Transparent von No Alternative angebracht hat. Ansonsten ist sie durch Talkshows bekannt, in denen sie sehr eloquent ihre Sicht vertreten hat. Mit ihrer kleinen Zelle aus vier Personen, in der Valerie das Sagen hat, lebt sie nun in einer geheimen Wohnung. Die vier müssen ständig auf der Hut sein, nicht entdeckt zu werden; denn insbesondere Emma wird seit der Messeturm-Aktion polizeilich gesucht.
No Alternative plant eine große neue Aktion: Im Hafen von Frankfurt wollen die Aktivisten auf einem Zwischenlager-Parkplatz 1.000 Elektroautos in Brand stecken. Die Aktion soll keine Menschen gefährden, aber die Bewegung sieht es als legitim an, Gegenstände, die umweltschädlich sind, zu zerstören. Lange wird das Zwischenlager ausgekundschaftet, und eines Nachts dringen verschiedene Untergruppen von No Alternative koordiniert in den Hafen ein und schaffen es, ihre Aktion umzusetzen. Emmas Gruppe gelingt es, unerkannt zu fliehen. Doch andere Aktionen, die noch gefährlicher sein werden, sollen folgen …
Bewertung:
Was hier zusammengefasst zu lesen ist, ist nur der Anfang eines Erzählstrangs von „No Alternative“ – dem von Emma. Das Buch kennt neben Emma jedoch noch einen zweiten Erzähler: Finn. Er besuchte mit Emma früher eine schulische Theatergruppe, die beiden haben sich oft gestritten und gezofft – insbesondere, weil Emma immer radikale Thesen aufgestellt und provoziert hat. Finns Rolle in dem Buch ist, dass er als Praktikant eines großen Nachrichtenmagazins die Chance auf eine große Reportage bekommt, für die er sich das Thema selbst aussuchen darf. Und seine Idee ist es, über Emma zu schreiben.
Darüber hinaus gibt es noch einen dritten kleineren Teil, der in mehreren Abschnitten in das Buch eingestreut ist: Den Aktionen von No Alternative liegt ein Manifest zugrunde, in dem zum einen beschrieben und erläutert wird, wie sehr der Mensch die Umwelt und Natur schädigt, zum anderen Thesen aufgestellt werden, wie man mit radikalen, auch gewaltsamen Aktionen dagegen vorgehen soll.
Wer das Buch nicht kennt, denkt bei No Alternative sicher an die Proteste von Letzte Generation (Wikipedia-Artikel). Doch verglichen mit No Alternative sind deren Proteste mit dem Festkleben auf der Straße relativ harmlos. Die Aktionen von No Alternative sind deutlich massiver, und damit polarisieren sie stark. Genau das greift Dirk Reinhardt aber auch immer wieder geschickt auf und zwingt einen als Leser/in dazu, sich einen eigenen Standpunkt zu suchen.
Als Bewegung, die ein berechtigtes Anliegen hat, kommt No Alternative – das ist mein Eindruck – in dem Buch nicht schlecht weg; man könnte Dirk Reinhardt unterstellen, dass er große Sympathien für die radikalen Proteste hat. Doch im Buch kommen auch andere Ansichten zu Wort. Es ist geschickt gemacht (aber natürlich auch durchschaubar), wenn zum Beispiel Emmas Adoptivmutter Alice zufällig Professorin für Umweltethik ist. Finn trifft sich bei seinen Recherchen auch mit ihr. Und Alice hält das Anliegen von No Alternative grundsätzlich für richtig, lehnt aber die radikalen Aktionen, bei denen Dinge zerstört werden, ab bzw. hält sie nicht für hilfreich, einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen. Das ist ja durchaus eine Diskussion, die man von den Aktionen von Letzte Generation kennt …
Abgesehen von diesen ethischen und politischen Fragen, um die es geht, ist „No Alternative“ ein richtig spannendes Buch. Emma und Finn wechseln sich (nur ab und zu von Manifest-Auszügen unterbrochen) als Erzähler ab. Dabei liegt den beiden verwobenen Erzählsträngen aber nicht die gleiche Chronologie zugrunde. Finns Erzählen setzt zu einem späteren Zeitpunkt als das von Emma ein; er weiß also schon einiges über die Aktionen von und mit Emma, die sie als Erzählerin noch durchleben muss. Das ist raffiniert gemacht.
Dirk Reinhardt weiß seine Geschichte außerdem lebendig und packend zu erzählen. Im ersten Kapitel springt man mittenrein, wenn Emma den Messeturm besteigt. Angesichts mehrerer Aktionen, die im Buch beschrieben werden, bleibt es von vorne bis hinten spannend – auch weil ständig die Frage im Raum steht, ob Emma und ihre Gruppenmitglieder irgendwann nicht doch entdeckt werden. Durch Finn weiß man aber zumindest schon fast von Beginn an zugleich, dass Emma inzwischen untergetaucht ist.
Neben dem Plot sind es die Konflikte zwischen den Figuren, die für Spannung sorgen. Emma zofft sich viel mit Valerie, die fast diktatorisch den Ton angibt. Man spürt zugleich, dass es zwischen beiden eine große Zuneigung gibt. Besonders schlimm sind die Konflikte zwischen Valerie und Vincent aus der Gruppe. Vincent ist aufbrausend und schreckt auch vor Gewalt gegen Menschen nicht zurück, was die anderen nicht akzeptieren. Und Noah, der vierte in der Gruppe, ist eher Harmonie wichtig und leidet unter den Konflikten …
Emma ist jedenfalls eine interessante Figur. Sie ist radikal, zeigt aber auch Gefühle, sie kennt Zweifel und ist empathisch. Das Buch versucht ein wenig auszuloten, warum und wie Emma zu ihrer radikalen Haltung gekommen ist. Das ist alles nur angedeutet, die Schlüsse muss man selbst ziehen. Aber sie sind psychologisch durchaus nachvollziehbar, finde ich.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ich bin einmal mehr begeistert von Dirk Reinhardts neuem Jugendroman, an dem alles stimmt. Man hat ein Buch in der Hand, das man nicht aus der Hand legen will; das Thema des Buchs ist politisch brisant, wird aber differenziert dargestellt; es ist dennoch ganz klar ein Plädoyer gegen das ökologische Greenwashing, das in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und auch bei jedem Einzelnen verbreitet ist. Und die Figuren im Buch sind einfach mal wieder nur gut gewählt – das gilt nicht nur für Emma und Finn. Emma erinnert übrigens in manchem an Greta Thunberg, ist allerdings deutlich radikaler als die Begründerin von Fridays for Future; zum Teil diente für Emma auch die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof als Blaupause.
„No Alternative“ kann man jedenfalls nur viele jugendliche Leser/innen wünschen. Es ist ein Buch, das unsere planeten- und umweltfeindliche Lebensweise nicht unbedingt verändern wird, aber das einem manches (noch mal) bewusst machen kann. Wir stehen, auch wenn das einige leugnen, an einem Scheideweg, wie es unserem Planeten und damit uns und allen anderen Lebewesen gehen wird. Und meine Hoffnung ist, dass Dirk Reinhardts neuer Jugendroman bei manchem Jugendlichen das Bewusstsein dafür schärft, das es so nicht weitergehen darf. Leider gibt es viele politische Strömungen auf der Welt, die anders denken.
(Ulf Cronenberg, 19.07.2024)