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Buchbesprechung: Jacqueline Woodson „Seit du gegangen bist“

Cover: Jacqueline Woodson „Seit du gegangen bist“Lesealter 14+(cbj 2023, 142 Seiten)

„Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ von Jacqueline Woodson hat mich vor einem Dreivierteljahr begeistert, und ich hatte mir vorgenommen, den Folgeband, der einen guten Monat später erscheinen sollte, auch zu lesen. Doch dann hab ich das Buch aus den Augen verloren … Und erst jetzt habe ich reichlich verspätet den zweiten Band mit dem Titel „Seit du gegangen bist“ aus meinem Lesestapel gezogen. Band 1 ist ein sehr literarisches Buch, das in den USA bereits vor gut 25 Jahren veröffentlicht wurde und eindrücklich den Alltagsrassismus in der amerikanischen Gesellschaft schildert.

Inhalt:

Miah wurde erschossen – so endete Band 1. Das war nicht nur eine tragische Verwechslung, sondern zugleich ein Ergebnis davon, dass Schwarze in den USA von der Polizei grundsätzlich häufiger als verdächtig angesehen werden. Miah war völlig unschuldig, war nur zur falschen Zeit am falschen Ort und die Polizei hielt ihn für einen anderen Verdächtigen. Das Leben für Ellie, seine Freundin, geht irgendwie weiter, wie auch für die Familie von Miah. Doch alle sind geschockt, hängen in den Seilen und kommen nur schwer über diesen sinnlosen Tod hinweg.

Nicht nur Ellie und Miahs Familie trauern, sondern auch seine Freunde, darunter Carlton, Miahs bester Freund, ein begnadeter Basketballer. Besonders schlimm ist der Tod auch für Miahs Mutter, und Ellie besucht sie ab und zu. Miahs Mutter bringt Ellie auch dazu, sich doch mal mit Carlton zu treffen. Die beiden freunden sich an.

Ellies Eltern machen sich allerdings große Sorgen um ihre Tochter, sie wollen, dass sie psychologische Hilfe annimmt. Doch Ellie ist nach wie vor wütend auf ihre Eltern. Denn so liberal sie einerseits tun und so klar ihnen nie ein eindeutig rassistisches Wort über die Lippen gehen würde: Ellie hat andererseits nach wie vor den Eindruck, dass sie als Weiße die Beziehung zu Miah nie so richtig gutgeheißen haben. Weil Miah ein Schwarzer war.

Bewertung:

Ja, es ist immer so eine Sache mit zweiten Bänden, wenn sie nicht schon von vornherein als Teil eines zweibändigen Werks geplant waren. Warum Jacqueline Woodson das 1998 erstmals erschienene „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ 2004 um einen zweiten Band erweitert hat, schreibt sie in einem fiktivem Nachwort-Interview mit sich selbst im Anhang. Die Figuren aus Band 1 hätten sie nicht losgelassen, hätten sie weiter beschäftigt; und dann kam 9/11 (siehe Wikipedia-Artikel zum Terroranschlag im Jahr 2001) und auf einmal gab es so viel Trauer und Verlust in der Gesellschaft, dass sich Jacqueline Woodson quasi bei der Trauer ihrer früheren Buchfiguren wiederfand und eine Fortsetzung schrieb.

„Seit du gegangen bist“ (Übersetzung: Barbara Neeb und Katharina Schmidt; amerikanischer Originaltitel: „Behind You“) bedient sich – das fällt auf den ersten Seiten auf – eines Tricks. Miah (oder ausführlich Jeremiah) verliert zwar seine körperliche Präsenz, lebt aber als Seele fort und ist im Buch einer der Erzähler. Noch eine weitere gestorbene Person kommt in dem Buch vor: Miahs Großmutter. Aber Miah (und seine Großmutter) können natürlich nur noch alles von außen verfolgen, sich den Lebenden nicht mehr mitteilen (auch wenn einmal im Buch steht, dass man einen Lufthauch von ihnen spüren könne).

Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt: „Das Ende“ schildert zu Beginn auf wenigen Seiten, wie Miahs Seele den Tod und das direkte Danach erlebt. Es folgt ein Abschnitt, der mit „Der Schmerz“ übertitelt ist. Hier wird sehr ausführlich beschrieben, wie schlecht es Ellie, Miahs Eltern und Freunden geht. Wie im gesamten Buch kommen als Ich-Erzähler verschiedene abwechselnd Figuren zu Wort – die Kapitelüberschrift gibt an, wer gerade erzählt. Und was Jacqueline Woodson einmal mehr gut gelingt, ist, wie sie jedem Erzähler bzw. jeder Erzählerin einen anderen Ton gibt.

Dennoch, der Abschnitt „Der Schmerz“ hat mich etwas enttäuscht. Hier passiert wenig, es wird recht lange in der Trauer geschwelgt, und das ist in der Masse ein bisschen langatmig. Ich kann den Gedanken dahinter, dass alle zentralen Figuren, die Miah kannten, zu Wort kommen, verstehen; aber es wiederholt sich eben auch viel. Man mag entgegnen, dass dieser Sumpf durchaus der trauernden Realität entspricht; aber für einen Roman ist das trotzdem etwas wenig.

Das Buch bleibt gottseidank aber nicht dabei stehen, sondern wird interessanter, als auf Seite 45 der Abschnitt „Die Heilung“ beginnt; und er nimmt dann den Rest des Buchs ein. Hier wird beschrieben, wie die verschiedenen Figuren sich Stück für Stück wieder Lebensfreude zurückholen, wie sie – jeder auf seine Art – den Verlust verarbeiten und wie sich bei ihnen nach und nach die Trauer abschwächt, auch wenn der Schmerz bleibt.

Bei Miahs Mutter, die Schriftstellerin ist, heißt das, dass sie irgendwann wieder zu schreiben anfangen kann; Ellie hilft vor allem, dass sie sich ab und zu mit Miahs Mutter trifft und von ihr dazu animiert wird, Miahs besten Freund Carlton aufzusuchen. Ja, es sind die Beziehungen, die am Ende weiterhelfen, dass man das Trauerloch verlassen kann; denn dadurch wird die Sprachlosigkeit wegen Miahs Tod langsam aufgehoben, neue Freundschaften werden geschlossen. All das braucht natürlich seine Zeit. Bei Ellie, die die Liebe ihres Lebens verloren hat, etwas mehr als ein Jahr.

Fazit:

3-einhalb von 5 Punkten. Die große Begeisterung, die ich bei „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ verspürt habe, hat sich bei „Seit du gegangen bist“ leider nicht so richtig eingestellt. Das könnte natürlich daran liegen, dass Jacqueline Woodson hier ein Trauerbuch geschrieben hat, dass der Roman ein schwieriges Hauptthema hat. Doch ich glaube, das war es nicht mal, was mich an dem Buch hauptsächlich gestört hat. Es fehlt dem Buch im Gegensatz zu Band 1 vielmehr eben eine Story, die das Buch trägt. Es geht vor allem um Gefühle, doch auf der Handlungsebene passiert wenig – das gilt insbesondere für die ersten knapp 50 Seiten.

Wahrscheinlich ist es besser, man liest „Seit du gegangen bist“ unmittelbar nach dem ersten Band; man kann dann sicher besser an den Figuren andocken und hält die Schwebe und Ereignislosigkeit der Trauer besser aus; ja, man freut sich vielleicht, dass man die Figuren aus Band 1, die einem auch als Leser/in nachgehen, nicht gleich ziehen lassen muss. Für mich war es jedoch so, dass ich mich erst wieder reindenken, die Figuren und die Stimmung rekonstruieren musste. Nichtsdestotrotz: Beeindruckend bleibt, wie Jacqueline Woodson die Charaktere des Buchs in ihrer Unterschiedlichkeit darstellt und in ihre Seelen zu schauen vermag.

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(Ulf Cronenberg, 07.07.2020) ></p>
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