(Carlsen-Verlag 2024, 237 Seiten)
Vor dreieinhalb Jahren habe ich Michael Siebens zweiten Jugendroman „Das Jahr in der Box“ gelesen – ein Buch, das mir durchaus gefallen hat. Das mit dem Kranichsteiner-Stipendium ausgezeichnete Debüt „Ponderosa“, mit dem neue Talente gefördert werden, hatte ich leider verpasst. Dass Michael Sieben früher Wirtschaftswissenschaften studiert hat (wie der Carlsen-Verlag schreibt), ist etwas ungewöhnlich für einen Jugendbuch-Autor – aber vielleicht ist das einfach auch nur ein Vorurteil von mir …
Inhalt:
Happy ist genervt. Mit ihren Eltern, die sich ständig nur streiten, so dass sie sich schon wünscht, dass diese sich trennen, muss sie in den Urlaub fahren. Ziel ist der Campingplatz auf einer Insel. Mit dabei ist eine befreundete Familie, deren Sohn Adrian so alt ist wie sie. Aber Happy findet Adrian einfach nur seltsam: ein Nerd, der in Fantasy-Spielen und deren Welten aufgeht, sich oft komisch verhält. Keine guten Bedingungen für einen aufregenden Urlaub …
Immerhin ist auch der gut aussehende Finn, auf den Happy steht, zur gleichen Zeit am Campingplatz. Doch der ist nur selten zu sehen … Stattdessen wird Happy immer wieder mit Adrian konfrontiert. Und weil Adrian ihr in einer Situation aus der Patsche hilft, was alles andere als selbstverständlich ist, sieht Happy ihn irgendwann doch in einem anderen Licht. Das anfängliche Genervtsein weicht einer gewissen Vertrautheit. Auch wenn Adrian ein Nerd ist, Happy und er entdecken einige gemeinsame Interessen.
So kommt es, dass die beiden den Rest des Urlaubs viel Zeit miteinander verbringen und ständig miteinander sprechen. Auf einer Strandparty sieht Happy dann Finn wieder; er ist Happy gegenüber jedoch so aufdringlich, dass sie ihn, als er sie küssen will, von sich stößt. Und als der Urlaub dann zu Ende geht, weiß Happy nicht so recht, wie es mit Adrian weitergehen soll. In der Schule fände sie es echt peinlich, wenn andere merken, dass sie mit Adrian befreundet ist.
Bewertung:
„Und dann springe ich“ ist ein viel raffinierteres Buch, als es die Inhaltszusammenfassung vermuten lässt; denn darin ist nur ein Teil der Geschichte aufgegriffen. Im Buch wechseln sich dagegen zwei Erzählperspektiven und Erzählzeiten ab. Der oben wiedergegebene Erzählstrang liegt – das merkt man beim Lesen recht bald – schon etwas länger zurück als der zweite; und er erzählt aus der Sicht von Happy, was im Urlaub und danach zurück in der Schule passiert. Der zweite Erzählstrang hat einen Ich-Erzähler, von dem man sehr lange nicht weiß, wer da eigentlich das Wort ergreift. Diese Buchkonstruktion ist durchaus gewitzt, weil man lange im Dunkeln tappt und nicht weiß, wie die beiden Erzählstränge zusammengehören.
Im (oben nicht zusammengefassten) zweiten Erzählstrang geht es darum, dass der Ich-Erzähler sich Sorgen um Ava, ein verschwundenes Mädchen, macht. Ava hatte eine schwere Zeit, auch weil ihre Eltern sich getrennt haben, aber es gibt dafür vor allem auch einen weiteren Grund, den niemand kennt. Vom Ich-Erzähler erfährt man, dass er selbst es auch nicht leicht hat. Hinter ihm liegt ein Unfall, er hat langwierige Rückenoperationen über sich ergehen lassen müssen, sein Rücken ist voller Narben und mit Titanplatten verstärkt; von anderen wird er ständig als „Mutant“ gehänselt.
Die Sorge um Ava teilt auch niemand mit ihm – im Gegenteil. Einige aus ihrer der Klasse sind froh, dass „Evil Ava“, wie sie von manchen genannt wird, weg ist, sagen, dass sie nur wieder Aufmerksamkeit sucht und bald wieder zurück sein wird. Doch der Erzähler ahnt, dass mehr hinter Avas Verschwinden steckt, und er bekommt dezente Hinweise, die ihn auf Avas Spur führen könnten, sofern er sie entschlüsseln kann – doch er kann sich auf all das keinen Reim machen.
Die Geschichte des Buchs wirkt jedenfalls gut ausgetüftelt – da hat Michael Sieben einiges an Überlegungen reingesteckt. Erst so in der Mitte des Romans entwickelt man eine Ahnung, wie die beiden Erzählstränge zusammengehören könnten – aber die genaue Auflösung folgt einiges später im Buch. Es ist jedenfalls sehr reizvoll, wie die beiden Geschichten verschränkt sind.
Gefallen haben mir auch die Figuren im Buch. Sehr unterschiedliche Charaktere treten auf: Finn ist als einzige Figur vielleicht etwas sehr holzschnittartig gezeichnet – aber er spielt im weiteren Verlauf des Buchs auch keine Rolle. Ansonsten treten im Roman auch einige nicht gerade sympathische Figuren auf: Göbel, ein Junge, der den Erzähler ohne Skrupel mobbt; die Schwestern Esra und Jessi, die beide nicht gut auf Ava zu sprechen sind. Der sympathischste Junge ist Deniz, der homosexuellen Freund des Erzählers, der noch mit seinem Coming-out kämpft.
Der Spannungsbogen des Romans ist infolge der zwei Erzählstränge gut aufgezogen. Sind es anfangs eher die Figuren, denen man gerne folgt, so steht im weiteren Verlauf die Frage im Vordergrund, wie die beiden Erzählstränge zusammengehören. Man rätselt mit, man hat wenige Anhaltspunkte, und genau deswegen bleibt es bis zur Auflösung auf den letzten 40 Seiten spannend. Und das Ende? Halboffen ist es wunderbar konstruiert und hat etwas mit dem Titel des Buchs zu tun …
Fazit:
5 von 5 Punkten. Das oben schon einmal verwendete Wort „raffiniert“ trifft am besten, was mir an Michael Siebens „Und dann springe ich“ so gut gefallen hat. Das Buch ist gut durchdacht und mit seinen beiden Erzählsträngen, die am Ende gut ineinandergreifen, geschickt aufgezogen. Das ist wie bei einem Puzzlespiel – man versucht aus den ausgelegten Teilen ein Gesamtbild zu bekommen … Ansonsten können als Pfund des Jugendromans seine Figuren gelten: Dem Ich-Erzähler, aber auch Happy und Adrian folgt man gerne, man kann gut nachvollziehen, wie es ihnen geht, wie sie fühlen und was in ihnen vorgeht.
Die Geschichte wird sympathisch erzählt, unauffällig, aber gerade dadurch eben sehr gekonnt. Michael Sieben stellt die Geschichte und deren Figuren in den Vordergrund. Das ist wohltuend. Was man mit „Und dann springe ich“ in den Händen hält ist ein durchkomponiertes Buch, das gezielt auf die filmreife Szene am Ende hinführt und dessen Ende man erst kurz vor Schluss ahnt. Mir hat „Und dann springe ich“ somit noch besser als der Vorgängerroman „Das Jahr in der Box“ gefallen.
(Ulf Cronenberg, 08.08.2024)