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Buchbesprechung: Patrycja Spychalski „Heute sind wir Freunde“

Cover: Patrycja Spychalski "Heute sind wir Freunde"Lesealter 14+(cbt 2016, 321 Seiten)

„Heute sind wir Freunde“ ist das erste Jugendbuch von Patrycja Spychalski, das ich gelesen habe, obwohl sie schon einige geschrieben hat. In Polen geboren ist sie mit ihren Eltern im Alter von neun Jahren nach Berlin gezogen und arbeitet jenseits des Bücherschreibens in kulturellen Projekten mit Kindern und Jugendlichen. Die Idee, die hinter „Heute sind wir Freunde“ steht, ist nicht so ganz neu, aber trotzdem ist es immer wieder spannend, Bücher darüber zu lesen …

Inhalt:

An einem Freitagnachmittag müssen sechs Schüler einen Aufsatz nachschreiben, den sie aus unterschiedlichen Gründen versäumt haben. Florian Radtke, ein jungen Lehrer, beaufsichtigt die Schüler – doch als sie fertig sind, ist der vorhergesagte schlimme Sturm bereits so stark, dass er die Schüler nicht gehen lässt. Leo und Marc halten sich nicht daran und verlassen die Schule, kommen jedoch bald darauf zurück. Marc ist schwer verletzt, weil ihn ein Baumast erwischt hat.

Herr Radtke beschließt, dass er ihn mit dem Auto in die Klinik fahren muss. Die anderen Fünf sollen in der Schule bleiben und dem Hausmeister Bescheid geben. Doch darüber setzen sie sich hinweg, und als der Hausmeister das Schulhaus verlässt und die Schule absperrt, bleiben Nell, Leo, Chris, Anton und Valeska alleine in der Schule zurück. Sie kennen sich flüchtig, aber Freunde sind sie nicht – dafür sind sie alle viel zu unterschiedliche Personen und Charaktere.

So dauert es auch nicht lange, bis es erste kleinere Konflikte gibt. Da ist z. B. Leo, der seine Chance bei Nell sieht und mit ihr rummachen will. Nell ist zwar schon lange in Leo verliebt, doch als er sie nicht nur küssen, sondern weitergehen will, merkt sie auf einmal, dass sie sich in Leo getäuscht hat. Ziemlich brüsk lässt sie ihn abblitzen. Das ist wiederum Chris recht, der sich schon lange für Nell interessiert. Auch zwischen den anderen läuft nicht alles reibungslos … Eine lange Nacht alleine im Schulhaus beginnt für die Fünf.

Bewertung:

Mehrere Jugendliche irgendwo eingesperrt: sich selbst überlassen, eine Gruppendynamik, die hochkocht – das ist nicht unbedingt ein neues Thema. Immer wieder gibt es Jugendbücher, die ein ähnliches Szenario beschreiben, trotzdem sind das oft spannende Bücher. Das liegt wohl daran, dass es dabei um eine Situation geht, in der Jugendliche auf sich selbst gestellt sind, wo man nicht ausweichen, nicht fliehen kann, und dann kommt Existenzielles zum Vorschein, das im Alltag verborgen bleibt.

Patrycja Spychalski erzählt ihr Buch immer abwechselnd aus der Perspektive der fünf Protagonisten – um die 20 Seiten lang sind die einzelnen Kapitel, die immer mit dem Namen des Erzählers bzw. der Erzählerin überschrieben sind. Jeder hat seinen eigenen Ton – das macht Patrycja Spychalski recht gut; vor allem Valeska setzt sich von den anderen ab, weil von ihre Tagebucheinträge (immer beginnend mit „Liebe stille Begleiterin“), die während der Nacht in der Schule geschrieben werden, wiedergegeben werden.

Dass die Autorin fünf sehr unterschiedliche Charaktere für ihr Buch gewählt hat, verwundert nicht, denn gerade durch eine solche Konstellation kommt die Gruppendynamik in Schwung. Um die Figuren kurz zu skizzieren: Anton ist der Strebertyp, der sich schwertut, mit anderen in Kontakt zu treten. Leo ist der Coole mit den Machosprüchen. Nell ist die Sympathisch-Nette, die durchaus Zweifel kennt, während Valeska die bewunderte Schulschönheit ist, die jedoch eine Rolle spielt, ihr Inneres vor anderen versteckt und gar nicht so zufrieden mit sich und ihrem Leben ist, wie es scheint. Chris schließlich ist der ruhige Beobachter, der immer alles – auch an diesem Abend – mit seinem Fotoapparat festhält. Wo hier die Konfliktfelder liegen, die im Laufe der Nacht auftreten, kann man schon fast aus dieser Kurzcharakteristik ableiten …

Zu Beginn des Buchs bin ich jedoch erst einmal über einige Formulierungen gestolpert, bei denen ich das Gefühl hatte, dass Patrycja Spychalski nicht so ganz den Ton Jugendlicher von heute trifft. Doch das hat sich im Laufe des Buchs zunehmend verloren. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Gruppendynamik im Buch erst langsam aufbaut, und sobald sie so richtig zum Tragen kommt, geraten solche Details in den Hintergrund. Was Patrycja Spychalski jedoch in jedem Fall sehr gekonnt zeichnet, sind die Beziehungen zwischen den Jugendlichen – und hier passiert auch einiges …

Selbst auf den ersten Blick kritische Momente im Beziehungsgefüge meistert die Autorin: Das Knistern zwischen Leo und Nell endet, wie beschrieben, durch Leos Draufgängertum sehr abrupt, und stattdessen nähern sich Chris und Nell an. Das scheint fast etwas viel für eine Nacht, aber in dem Buch wird es durchaus stimmig dargestellt. Oder: Dass Anton insbesondere Konflikte mit Leo hat, verwundert nicht; dass Anton im Laufe des Abends seine streberhafte Haltung nach und nach verliert, könnte man als klischeehaft angelegt ansehen – doch auch hier wird der Wandel behutsam beschrieben. Man muss auch sehen, dass das natürlich Absicht ist; „Heute sind wir Freunde“ lebt davon, dass alles verdichtet wird, und das ist letztendlich auch in Ordnung.

Oberflächlich – auch das muss man dem Buch zugutehalten – sind die Charaktere jedenfalls nicht beschrieben. Leo zum Beispiel bleibt fast durchgängig ein Macho, und dennoch spürt man, dass er auch andere Seiten hat. Das macht Patrycja Spychalski sehr geschickt. Und auch Anton, neben Leo und Veleska die vielleicht dritte, am ehesten klischeehaft angelegte Person, wirkt dennoch authentisch, weil er eben nicht nur als Besserwisser, sondern durchaus als sensibler und sozial ängstlicher Mensch beschrieben wird.

Lange habe ich mich gefragt, wie dieses Buch enden mag … Ja, irgendwann ist die Nacht vorbei, der Sturm vorüber. Wie Patrycja Spychalski den Roman abschließt, hat mir jedenfalls (mehr sei nicht verraten) gut gefallen. Ein passendes Ende: offen, aber trotzdem rund.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Über die kleinen Stolpersteine auf den ersten 100 Seiten war ich recht schnell hinweg, danach hat mich „Heute sind wir Freunde“ in den Bann geschlagen. Patrycja Spychalski macht alles richtig, denn sie übertreibt es nicht: weder bei den Charakteren, die zwar Ansätze von Klischee zeigen, dann aber ansprechend vielschichtig weiterentwickelt werden, noch bei der Gruppendynamik. Es geht schon hier und da mal etwas ans Eingemachte, aber alles bleibt im Rahmen. Und das macht den Roman sympathisch und glaubwürdig.

Der Reiz eines solchen Roman-Szenarios liegt darin, dass die Figuren aus ihrem Alltag geworfen werden und damit Existenzielles ins Spiel kommt. Ich habe ja mit einem Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel gerechnet; und tatsächlich, es kommt auch irgendwann. Aber auch hier zeigt Patrycja Spychalski Augenmaß.

„Heute sind wir Freunde“ kann man, um es zusammenzufassen, uneingeschränkt Lesern ab 14 Jahren empfehlen, denn es regt zum Nachdenken an. „Wer bin ich, wer will ich sein?“ Diese und andere Fragen stellen sich die fünf Hauptfiguren im Buch, man stellt sie sich aber auch als Leser. Und deswegen ist Patrycja Spychalskis Jugendroman nicht nur unterhaltsam, sondern bietet einiges mehr.

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(Ulf Cronenberg, 05.06.2016)

Lektüretipp für Lehrer!

Ein Buch, wie geschaffen für den Deutsch- oder Ethikunterricht, mit 320 Seiten vielleicht etwas lang, aber ansonsten wirklich sehr anregend, denn es geht um so viele Themen – vor allem: Wie gehen wir miteinander um? Sind wir authentisch oder spielen wir eine Rolle? Was steht hinter dem, was man oberflächlich bei Mitschülerinnen und Mitschülern sieht? „Heute sind wir Freunde“ bietet wirklich viele Gesprächs- und Diskussionsthemen, ja, man könnte es sogar szenisch nachspielen.

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Kommentar (1)

  1. Esther

    ich werde mit dem buch nicht warm. vermutlich liegt es vor allem daran, dass ich zu jener generation gehöre, die „breakfast club“ im kino gesehen hat. „don t you …“ die ähnlichkeit ist schon sehr augenfällig, vor allem auch, wenn’s um die stereotypen geht. hätte ich mehr zeit, würde ich das buch sogar mit den schülerInnen lesen und danach den film schauen (hervorragende ausrede, um den kids so einen „alten schinken“ vorzuführen), aber da die zeit fehlt, gebe ich anderen werken den vorrang.

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