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Buchbesprechung: Dianne Touchell „Kleiner Wahn“

Cover: Dianne Touchell "Kleiner Wahn"Lesealter 15+(Königskinder-Verlag 2016, 267 Seiten)

Zwei große Auszeichnungen (Die besten 7 und Luchs des Monats – beide im Februar 2016) hat der Jugendroman „Kleiner Wahn“ der Australierin Dianne Touchell schon bekommen, und trotzdem habe ich mich eine Weile um das Buch, das schon seit einiger Zeit auf meinem Lesestapel lag, herumgedrückt. Es war das nicht unbedingt leichte Thema des Buchs, das mich etwas zögern hat lassen: Es geht um eine ungewollte Schwangerschaft, die tragisch endet – und ich wusste mehr über das Buch, als ich mit diesem Satz andeute … Eine vergnügliche Lektüre war also nicht zu erwarten – eher ein Thema, das einem an die Nieren gehen kann.

Inhalt:

Rose ist im letzten Schuljahr, die wichtigen Abschlussprüfungen stehen bevor. Schon seit längerer Zeit schwärmt Rose für Michael, und als sie sich näher kommen, fühlt es sich gut an. Auch Michael spürt das besondere Band zwischen ihm und Rose, beide bemühen sich, möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen.

Doch dann passiert es: Am Strand schlafen die beiden miteinander – obwohl sie es besser wissen müssten: ohne Verhütung. Auch beim zweiten Mal denken sie nicht daran … Und es dauert mehrere Wochen, bis Rose bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie ist extrem geruchsempfindlich, ihr ist immer wieder übel, vor allem ist jedoch ihre Periode ausgeblieben. Nur mit Hilfe ihrer Freundin Liv, die nicht gerade einen guten Ruf an der Schule hat, weil sie schon mit so vielen Jungen etwas hatte, traut sich Rose einen Schwangerschaftstest in der Apotheke zu kaufen. Rose ist schockiert, als er positiv ausfällt.

Sie erzählt es Michael – doch der reagiert seltsam abweisend und wenig verständnisvoll. Das hat vor allem auch mit seinem Vater zu tun, der auf subtile, aber brachiale Art autoritär ist und bei seinen Söhnen wenig Verständnis für Fehler hat. Für Michael ist es unvorstellbar, dass er von seinen Eltern Hilfe bekommen würde.

Rose in ihrer Not vertraut sich nur Liv, aber nicht ihrer Mutter an, und irgendwann schwenkt sie um: Sie will das Kind nicht haben. Zum Arzt gehen kommt jedoch nicht in Frage, weil das ihre Eltern mitbekommen würden. Deswegen tut sie alles, um das Kind in ihrem Bauch zu schädigen und bemüht sich ansonsten, die Schwangerschaft, so gut es geht, zu verleugnen: vor sich selbst, vor Michael und vor allen anderen.

Bewertung:

Dianne Touchells Schreibstil hat mich anfangs ziemlich irritiert. „Kleiner Wahn“ (Übersetzung: Birgit Schmitz; Originaltitel „A Small Madness“) ist seltsam distanziert geschrieben und hat mich auf den ersten Seiten nicht gerade angesprochen. Wie Rose und Michael sich kennenlernen, sich näher kommen, ein Paar werden und schließlich miteinander schlafen, wird fast neutral wie ein Bericht erzählt. Wie aus der Ferne werden dabei die Gefühle der beiden beschrieben …

Letztendlich ist die Erzählweise jedoch gut begründet, denn sie verhindert, dass man, als das Drama seinen Lauf nimmt, zu sehr in die Gefühlstiefen hinabsteigen muss – zumindest könnten man das auf den ersten Blick so sehen. Außerdem spiegelt der Schreibstil zugleich Roses und Michaels Umgang mit der ungewollten Schwangerschaft auf der Erzählebene wider. Sehr gekonnt springt Dianne Touchell in ihrer personalen Erzählperspektive von der Sicht einer Person zu der einer anderen. „Kleiner Wahn“ wird sozusagen multiperspektivisch erzählt, wobei man Rose am häufigsten folgt.

Inhaltlich ist es heftig, was man da zu lesen bekommt. Rose ist schwanger, aber will sich dem nicht stellen. Sie reagiert zweierlei: Einerseits bemüht sie sich, das Kind im Bauch zu schädigen, indem sie zum Beispiel mit Absicht zu rauchen anfängt; andererseits negiert sie die Schwangerschaft, indem sie mit niemandem mehr darüber spricht. Hatte sie sich anfangs Liv und Michael anvertraut, so bricht sie mit Liv, und auf Michaels Nachfragen geht sie schon bald nicht mehr ein. Dieses Negieren tut einem als Leser weh, und vielleicht – das wäre eine Hypothese, mit der ich meiner Behauptung oben allerdings selbst widerspreche – unterstützt der distanzierte Erzählstil sogar eher den Schrecken beim Lesen, als dass er ihn verringert. Manchmal ist Ungesagtes unerträglicher als detailliert Dargelegtes.

Fast beängstigend wirkt Dianne Tochells Schreibstil, weil sie ab und zu dann doch in die Gefühle ihrer Protagonisten schaut – und das immer sehr pointiert (hier am Beispiel Michaels):

Er schlief nicht gut. Schlief Rose gut? Er fragte sich, ob dieses im Entstehen begriffene Schneehöhlen bauende Ding jemals zarte Signale der Traurigkeit in Roses Träume schickte. In seinen eigenen Träumen lebte es, es hatte einen Puls und trudelte, hier und da anstoßend, in seiner Flüssigkeit herum wie eine Seekuh; dabei wuchs es gar nicht in ihm. Er hätte Rose gerne gefragt, wie sie das machte. Aber er kannte ihre Antwort schon: «Wie ich was mache?» (S. 117)

Solche sehr gekonnt gestreuten Gefühlsbeschreibungen, die sich einer unterschwellig bedrohlichen Metaphorik bedienen, findet man in dem Buch immer wieder, und sie zeigen, wie literarisch geschickt dieses Werk gestrickt ist.

Ja, gekonnt ist Dianne Touchells Werk geschrieben und aufgebaut. Ein Höhepunkt des Roman, sozusagen sein Resümee, ist, als Livs Mutter am Ende, nachdem die Katastrophe überstanden ist und alle nach Erklärungen für das Verhalten von Rose und Michael suchen, eine kurze Geschichte erzählt. Sie handelt davon, dass man Dinge totschweigt, damit sie nicht zu mächtig werden. Das ist genau das, was Rose versucht hat, was ihr aber nicht gelungen ist.

Und das Ende? Michael und Rose überleben die Katastrophe – mit welchen Folgen, das bleibt offen. Immerhin, die beiden gehen nicht zugrunde, sie leben weiter … Wie das gehen kann, muss sich der Leser selbst ausmalen. Dass das Buch hier endet, ist jedenfalls folgerichtig.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Auf scheinbar recht distanzierte Art erzählt Dianne Touchell die Geschichte in „Kleiner Wahn“, doch wer genauer hinschaut, merkt schon bald, dass das Buch gezielte Nadelstiche setzt, die beim Lesen für ziemlich viel Unbehagen sorgen. Es sind die subtilen Schilderungen von viel Erschreckendem, die einen als Leser mitunter fast verstören. Wie Rose auf die Schwangerschaft reagiert und sie negiert, wie Michael hilflos dasteht, wie sein Vater mit seiner vorgeblich zugewandten Art ein autoritatives Regime führt: Die Welt, in der „Kleiner Wahn“ spielt, ist nicht harmlos – sie ist gnadenlos.

Dianne Touchell hat sich dem Thema „ungewollte Schwangerschaft“ auf ihre eigene Art genähert – gnadenloser als andere Autorinnen und Autoren. Das macht „Kleiner Wahn“, würde ich sagen, fast eher zu einem Erwachsenenbuch als zu einem typischen Jugendroman. Das Verstörende des Buchs ist, dass die Personen so determiniert erscheinen, dass sie keine Handlungsmöglichkeiten haben, mit der Krise anders, besser umzugehen. Das Buch enthält kein positives Bild vom Menschen – sie sind verstrickt in ihren negativen Umstände, sie sind unfähig zu kommunizieren. Der Roman erschreckt somit, er bietet wenig Hoffnung. Aber gerade deswegen ist er auch etwas Besonderes. „Kleiner Wahn“ ist ein Buch, an dem man sich reiben kann … Ein modernes Sozialdrama, das fast der Epoche des Naturalismus entstammen könnte.

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(Ulf Cronenberg, 29.05.2016)

Kommentar (1)

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