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Buchbesprechung: Tom Leveen „Ich hätte es wissen müssen“

leveen_wissenLesealter 14+(Hanser-Verlag 2015, 207 Seiten)

In den letzten Jahren wurden zunehmend mehr Bücher veröffentlicht, in denen es um Cybermobbing geht – das ist unter Jugendlichen allerdings auch ein großes Thema geworden. Tom Leveens Jugendroman „Ich hätte es wissen müssen“ handelt auch davon, allerdings nicht aus Opfersicht, sondern es geht darum, wie ein Mädchen, das mitgemacht hat und mit den schlimmen Folgen ihres Tuns zu leben hat, damit zurechtzukommen versucht. Eine mal andere Sichtweise, die der amerikanische Autor da zu Papier gebracht hat …

Inhalt:

Kevin hat Selbstmord begangen, und vorausgegangen war ein langes Mobbing in Facebook, wo er mit üblen Kommentaren wie „Schwuchtel“ und „Es wäre besser, wenn du tot bist“ bedacht wurde. Auch Tori, ein Mädchen, das Kevin persönlich, wenn auch nicht gut kannte, hat sich daran beteiligt, und nun ist sie angeklagt, weil eine Reporterin das Ganze publik gemacht hat. Neben Tori sollen einige weitere Jugendliche gerichtlich belangt werden, darunter auch Lukas, dem Tori gefallen wollte und will.

Die Gerichtsverhandlung steht am nächsten Tag bevor, und Tori hat in den letzten Wochen einiges durchgemacht. Von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen wird sie nicht mehr beachtet, zu Hause hat sie nur noch ein altes Handy ohne Internetverbindung und der Laptop wurde ihr weggenommen. Es gibt nur noch einen Jungen, der zu ihr hält: Noah.

Am Abend vor der Gerichtsverhandlung bekommt Tori ziemlich spät einen seltsamen Anruf: Ein Junge namens Andy, den sie nicht kennt, sagt, dass er sich umbringen will, dass er vorher aber am Telefon einen letzten Versuch unternehmen wolle, es sein zu lassen, sofern ihm die angerufene Person einen triftigen Grund weiterzuleben nennen kann.

Tori meint erst, dass das alles ein Scherz ist, doch je länger das Telefonat dauert, desto weniger ist sie sich dessen sicher. Jedenfalls will sie es nicht riskieren, dass Andy wirklich Selbstmord begeht, und so versucht sie ihn am Telefon an der Stange zu halten. Doch sie fühlt sich mit der Situation zunehmend überfordert. Es gelingt ihr schließlich, nebenbei mit Noah Kontakt aufzunehmen – sie bittet ihn, vorbeizukommen und sie zu unterstützen. Noah steht kurze Zeit später bei ihr im Zimmer, und für beide wird es eine lange Nacht werden …

Bewertung:

Ich war schon immer ein Fan von Büchern, die ich selbst als Kabinettstücke bezeichne: Büchern, bei denen die erzählte Zeit nicht groß von der erlebten Zeit abweicht und die in einem Raum spielen. Das sind nicht selten Romane mit großartigen psychologischen Momenten, weil hier die Interaktion zwischen wenigen Personen im Vordergrund steht. Und genau das trifft auf Tom Leveens Roman „Ich hätte es wissen müssen“ (Übersetzung: Anja Hanse-Schmidt) zu.

Von dem Buch war ich nach einer kurzen Anlaufzeit schon bald in Bann geschlagen. Über einen langen Zeitraum hinweg geht es nur um das Telefonat zwischen Andy, der sich umbringen will, und Tori, deren Gerichtsverhandlung wegen Cybermobbings bevorsteht. Beide wissen anfangs nichts voneinander, und wie sich das Gespräch nach und nach entwickelt, wie die beiden sich durch das Telefonat Stück für Stück gegenseitig kennen lernen, immer jedoch auf der Hut vor dem anderen, ist sehr raffiniert gemacht.

Anfangs steht Andys geplante Tat im Vordergrund, doch nach einer Weile geht es auch zunehmend um Tori und ihre schwierige Situation. Irgendwann kommt Noah als dritter Gesprächspartner hinzu, und auf psychologischer Ebene entfaltet sich bald eine große Spannung. Tori versucht z. B. herauszubekommen, wo Andy sich befindet – dieser hält sich aber lange bedeckt, bevor er schließlich erzählt, dass er mit seinem Auto vor einem Abgrund steht. Das Telefongespräch zieht sich hin, aber es wird mit zunehmender Dauer nicht langweiliger, sondern packender.

Es ist schwer, über den weiteren Verlauf des Buchs etwas zu schreiben – denn was im letzten Drittel (vor allem auf den letzten 30 Seiten) passiert, kommt völlig unerwartet. Und diese Wendung will ich für jemanden, der das Buch selbst lesen will, hier nicht vorwegnehmen. Ich war jedenfalls selbst höchst überrascht, wie sich das Buch weiterentwickelt, es bekommt eine ganz neue Lesart … Mich hätte es nicht gestört, wenn es bei dem Telefongespräch geblieben wäre, aber fintenreicher ist der Roman so in jedem Fall.

In das Buch eingestreut sind übrigens neben zwei Zeitungsartikeln Ausschnitte aus den Facebook-Postings zwischen Kevin und seinen Mitschülern. Auch hier gilt wie beim Rest der Geschichte, dass sich einem als Leser vieles erst nach und nach erschließt. Das macht Tom Leveen schon sehr geschickt. Man weiß lange nicht, was Tori eigentlich getan hat – alles wird Stück für Stück entblättert. Was die Postings angeht: Die Aufmachung der Facebook-Einträge in grauen Kästen mit dunklem Rahmen wirkt etwas hausbacken. Das hat aber nichts mit dem Buch, sondern mit dem Setzen zu tun …

Fazit:

5 von 5 Punkten. Tom Leveens Jugendroman „Ich hätte es wissen müssen“ ist ein lesenswertes, ein geschickt aufgebautes Buch, das vor allem im letzten Drittel noch einmal eine ganz andere Wendung bekommt. Lange steht das ausführliche Telefonat zwischen Tori und Andy im Zentrum – ein psychologisch dichtes Gespräch, bei dem zwei Jugendliche in ziemlich auswegloser Situation umeinander kreisen; am Ende kommt dann doch vieles ganz anders. Die Stärke des Romans ist, dass er psychologisch dicht und packend ist.

In dem Roman wird das Thema Cybermobbing einmal nicht aus der Opfersicht beschrieben, und das ist wohltuend, weil die oft vernachlässigte Tätersicht in den Blick genommen wird. Es geht darum, warum Menschen soziale Netzwerke nutzen, um anderen zu schaden – sei es willentlich oder nur halb bewusst. Bei Tori ist da viel Unbedachtheit dabei gewesen, sie war eher eine Mitläuferin, die sich nicht in die Lage des Geschädigten versetzte, als Strippenzieherin. Im Laufe des Buchs kapiert Tori erst, was sie da eigentlich getan hat, worin ihre Mitschuld besteht. Ziemlich spät und nicht ganz freiwillig. Es bleibt zu hoffen, dass viele Jugendliche das Buch lesen und daraus etwas lernen.

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(Ulf Cronenberg, 13.08.2015)

Lektüretipp für Lehrer!

Im Unterricht Bücher, in denen es auch um das Thema Selbstmord geht, als Lektüre anzubieten, ist heikel, doch letztendlich handelt „Ich hätte es wissen müssen“ hauptsächlich von etwas anderem (das weiß vor allem, wer das Buch gelesen hat): um Cybermobbing und das Verhalten in sozialen Netzwerken. Tom Leveens Buch kann das Nachdenken und Diskussionen über das Thema fördern, und zwar sicher nachhaltiger als dröge Ermahnungen und Erinnerungen, sich im Internet ordentlich zu benehmen. Ideal ist das Buch für Projekttage zum Thema (Cyber-)Mobbing, wo man ja auch verschiedene Jugendromane zu dem Thema vorstellen lassen kann. Aber man kann das Buch natürlich auch im Deutsch- oder Ethikunterricht verwenden.

Kommentare (3)

  1. Thomas Hacker

    Ich bitte um sorgsamen Umgang mit Sprache und versuche, darauf aufmerksam zu machen, dass es passendere Begriffe als „Selbstmord“ gibt – wie z. B. Suizid oder „… hat sich das Leben genommen“.
    vgl. http://www.agus-selbsthilfe.de/
    Sie werden beim Lesen bemerken, dass wir durchgängig die Begriffe Suizid (aus dem Lateinischen) und Selbsttötung verwenden, beide sind wertneutral und beschreibend.
    Im Alltag wird oft von Selbst„mord“ gesprochen. Mord ist der schwerste Straftatbestand in unserem Strafgesetzbuch und bezeichnet die Tötung eines anderen Menschen aus niedrigen Beweggründen wie Habgier, Neid, Eifersucht, Mordlust usw. – diese Bezeichnung hat nicht im entferntesten etwas zu tun mit der Situation eines verzweifelten Menschen, der sich das Leben nimmt. Und Suizidtrauernde sind nicht Hinterbliebene eines „Mörders“.
    Die Bezeichnung „Freitod“ beinhaltet den Hinweis auf eine freie Willensentscheidung zum Tod, meist in Verbindung mit edlen Motiven. Auch dies beschreibt unseres Erachtens nicht die Situation von Menschen, deren Entscheidung von Ausweglosigkeit geprägt ist.

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    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Hallo Herr Hacker,
      danke für den Hinweis – ich werde mal schauen, ob ich in Zukunft andere Begriffe verwende. Ich verstehe durchaus, was Sie meinen.
      Viele Grüße
      Ulf Cronenberg

      Antworten
  2. Ami

    Ich finde es auch hervorragend gelungen, wie das Thema Cybermobbing hier aus der Täterperspektive behandelt wird. Irgendwie leidet man als Leser schon mit Tori, die zweifellos in einem ganz schön tiefen Schlamassel steckt, andererseits fühlt man sich aber gleichzeitig auch abgestoßen von so einer schrecklichen Tat, sodass man irgendwie schon wünscht, dass diese angemessen gesühnt wird. Und was das angehnt, wird man auch nicht enttäuscht, finde ich jedenfalls. Auch dass ihr Bruder Jack, der selbst jahrelang wegen seiner Akne gemobbt wurde, nicht mehr mit ihr redet, ist zwar hart für sie, aber durchaus verständlich. Und dann dieser Anruf gegen Mitternacht, den Tori erst für einen blöden Scherz hält – Schmähanrufe ist sie schließlich seit diesem Vorfall gewohnt. Aber sie kann es auch nicht riskieren, dass sich durch ihre Schuld noch ein Mensch das Leben nimmt, und so bleibt sie dran und unterhält sich mit Andy …
    Als das Gespräch ab der zweiten Hälfte des Buches immer mehr auf Tori und ihre Tat gelenkt wird, hatte ich schon geahnt, dass es am Ende womöglich auf etwas ganz anderes hinauslaufen wird. Worauf genau jedoch, das hatte ich auch nicht voraussehen können. Auf jeden Fall finde ich es wirklich geschickt gemacht – ein Buch, das ich nur wärmstens weiterempfehlen kann. Vor allem hoffe ich auch, dass dadurch Jugendliche zum Nachdenken angeregt werden, die sonst eher unbedacht im Internet schreiben. Denn auch wenn die Geschichte erfunden ist, sind Fälle wie die von Kevin leider schon Realität geworden.

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