(Bloomsbury-Verlag 2010, 281 Seiten)
Seltsam, dass Jane Yolens Jugendroman „Dornrose“ bereits 1992 in Amerika erschienen ist, aber erst jetzt den Weg nach Deutschland gefunden hat. Es kommt zwar immer wieder mal vor, dass ausländische Bücher erst später entdeckt werden (das gilt z. B. für die Kinderbücher von Paula Fox), aber insgesamt ist das doch eher selten. Der Titel „Dornrose“ ist übrigens angelehnt an … – genau: das Märchen „Dornröschen“, und wer weiterliest, weiß auch, was der Grund dafür ist.
Inhalt:
Ihren Enkelinnen Shana, Sylvia und der einige Jahre jüngeren Becca erzählt Gemma, wie die Drei ihre Großmutter nennen, immer wieder das Märchen Dornröschen. Gemma ist eine großartige Erzählerin, die die Geschichte um die Prinzessin jedoch oft mit seltsamen Wörtern wie „Lagerdraht“ ausschmückt. Dabei fasst sie die Geschichte so zusammen, als hätte sie etwas mit ihrem früheren Leben zu tun – doch trotz Nachfragen ihrer Enkelinnen schweigt sich Gemma darüber aus.
Als Becca, Sylvia und Shana erwachsen sind, stirbt Gemma – zuletzt hat sich vor allem Becca noch um ihre Großmutter, die oft verwirrt war, gekümmert. Die beiden älteren Schwestern sind längst verheiratet und wohnen in anderen Städten. Der Familie hat Gemma ein geheimnisvolles Kästchen hinterlassen, von dem niemand wusste. Gemeinsam öffnet die Familie nach der Beerdigung die Kiste und stößt auf seltsame Dinge: alte Zeitungsausschnitte aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Ring mit Initialen, Einreisedokumente und vieles mehr …
Am Sterbebett hat Becca ihrer Großmutter versprochen, dass sie deren Geheimnis folgen und ihm auf die Spur kommen wird. Das Märchen muss etwas mit Gemma Vergangenheit zu tun haben, von der niemand in der Familie seltsamerweise Genaueres weiß. Becca recherchiert und stößt dank ihrer Hartnäckigkeit auf erste Indizien. Ist Gemma am Ende des zweiten Weltkrieges als Jüdin aus Europa geflohen? Trug sie damals einen anderen Namen? Die Spur führt Becca zu einem Ort in Polen, und dorthin macht sie sich schließlich auf die Reise …
Bewertung:
„Dornrose“ (Übersetzung: Ulrike Nolte) ist – ich nehme das mal gleich vorweg – ein ganz besonderes Buch. Das merkt man schon auf den ersten Seiten, denn Jane Yolen versteht es, den Leser mit großer Eindrücklichkeit in die Geschichte hineinzuziehen. Da sind zum einen zwei- bis dreiseitige Rückblenden (kursiv gedruckt), in denen Gemma ihren Enkelinnen das Märchen von Dornröschen auf faszinierende Art und Weise erzählt. Das Märchen bekommt in diesen Passagen oft etwas Beklemmendes, weil Gemma insbesondere die grausamen Stellen der Geschichte unheil- und geheimnisvoll erzählt. Den Rest des Buches bildet die Gegenwart, in der Gemma gestorben ist und Becca sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Großmutter macht.
Auch dieser Teil des Buches hat seinen Reiz. Aus der anfänglich eher rührenden Familiengeschichte wird eine zunehmend beklemmende Erzählung, als Becca in Polen erfährt, welche schlimmen Dinge ihre Großmutter zur Zeit des Dritten Reiches erlitten hat. Man kann sich vorstellen, dass es um Judenverfolgung und Konzentrationslager geht – die Details sollte man sich jedoch selbst erlesen.
Was mir an dem Buch so gut gefallen hat, war, dass es die Grausamkeiten im Dritten Reich in eine Rahmenhandlung packt und die Geschichte somit in die Gegenwart holt. „Dornrose“ ist mehr als ein weiterer Holocaust-Roman. Fasziniert (auch wenn die Konstruktion vielleicht beim genaueren Hinschauen ab und zu leicht holpert) war ich auch vom kunstvollen Aufbau des Romans. Die Märchenstruktur spiegelt sich nämlich auch im Gegenwartsteil des Buches wider. Gut durchkomponiert ist dieses Buch, außerdem mit Raffinesse, aber auch mit viel Gefühl geschrieben!
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ein ganz typisches Jugendbuch ist „Dornrose“ nicht, würde ich sagen. Jane Yolens Roman empfiehlt sich durchaus auch erwachsenen Lesern – aber zugleich ist es auch ein Buch, das man älteren Jugendlichen zu lesen geben sollte. Wahrscheinlich finden an dem Buch eher Mädchen ab 15 Jahren als Jungen gleichen Alters Gefallen – das vermute ich zumindest. Jedenfalls ist es ein Glück, dass „Dornrose“ nach 18 Jahren ins Deutsche übersetzt wurde. Ulrike Nolte hat hier übrigens Tolles geleistet, denn einige Wortspiele im Buch, als sich Becca mit einer jungen Polin unterhält, können so im Englischen nicht vorhanden gewesen sein.
Es gibt viele bewegende Geschichten über die Judenverfolgung im Dritten Reich, und Jane Yolens Roman gehört in jedem Falle dazu. Durch die Rahmenhandlung in der Gegenwart behält das Buch trotz des schwierigen Themas eine gewisse Leichtigkeit, insbesondere, weil das Buch wie ein Märchen angelegt ist und somit auch – zumindest in Teilbereichen – gut endet.
(Ulf Cronenberg, 05.06.2010)
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