(Fischer Schatzinsel 2009, 302 Seiten plus Bildanhang)
Es gibt einige Bücher über die Judenverfolgung im Dritten Reich – das bekannteste dürfte wohl „Das Tagebuch der Anne Frank“ sein. Die israelische Schriftstellerin Tami Shem-Tov hat im Jahr 2007 ein Buch herausgebracht, das 2009 auch auf Deutsch erschienen ist und das in vielem dem „Tagebuch der Anne Frank“ ähnelt: Es geht ebenfalls um die Judenverfolgung in Holland, die Hauptperson ist ein Mädchen, das vor den Nazis versteckt wird, und das Buch greift auch eine reale Geschichte auf. Das Besondere an Tami Shem-Tovs Werk ist, dass das Mädchen, um das es geht, im Gegensatz zu Anne Frank heute noch lebt und dass die Autorin somit für ihr Buch recherchieren konnte.
Inhalt:
Im Jahr 1940 haben die Deutschen die Niederlande besetzt, und damit beginnt auch dort die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Jacquelines Vater, der an der Universität Utrecht gearbeitet hat, hat als Jude seinen Job verloren, und als die Lage für die Juden immer schlimmer wird, versuchen Jaquelines Eltern, ihre Kinder in anderen Familien unterzubringen. So kommt Jaqueline, die sich fortan Lieneke nennt, nach einer kurzen Zwischenstation nach Den Ham in die Familie des Arztes Dr. Kohly, wo sie als dessen Nichte aus Amsterdam ausgegeben wird. Zu ihren Eltern sowie den drei größeren Geschwistern hat Lieneke in dieser Zeit keinen direkten Kontakt mehr – lediglich ihr Vater schickt ihr ab und zu Briefe.
Bei Dr. Kohly und seiner Frau geht es Lieneke verhältnismäßig gut, auch wenn sie große Sehnsucht nach ihrer Familie hat. Allerdings spitzt sich im weiteren Verlauf des Krieges die Versorgungslage in den Niederlanden zu, so dass es selbst für einen Landarzt und seine Familie zunehmend schwer wird, über die Runden zu kommen. Und über allem schwebt zudem die große Angst, dass die Nazis der jüdischen Herkunft Lienekes auf die Schliche kommen könnten.
Die Situation wird noch gefährlicher, als Dr. Kohly, der der Widerstandsbewegung angehört, auch noch zwei Juden in einer geheimen Kammer versteckt. Würde man diese entdecken, so wäre das der sichere Tod aller Menschen, die im Haus Dr. Kohlys leben. Lieneke fällt es zunehmend schwer, in den Briefen an ihren Vater dessen unbefangenen und liebevollen Ton zu erwidern …
Bewertung:
Dass man es bei „Das Mädchen mit den drei Namen“ mit einem besonderen Buch zu tun hat, merkt man schon nach wenigen Seiten. Es ist weniger das bedrückende und ernste Thema, das dem Buch zugrunde liegt, sondern vor allem dessen Schreibweise, die einen schon nach kurzer Zeit gefangen nimmt. Tami Shem-Tov gelingt es sehr gut, die kindliche Sicht Lienekes einzunehmen und deren Erleben der schlimmen Jahre während des Zweiten Weltkriegs einzufangen. Dass das auch im Deutschen funktioniert, ist sicher auch ein Verdienst der Übersetzung von Mirjam Pressler.
Authentisch ist „Das Mädchen mit den drei Namen“ insbesondere, weil in dem Buch – eingestreut in die Handlung – die niederländischen Originalbriefe von Lienekes Vater abgedruckt sind (jeweils mit der deutschen Übersetzung direkt daneben). Beim Lesen dieser Briefe spürt man, wie Lienekes Vater trotz der schlimmen Vorkommnisse versucht, Lieneke Halt zu geben. Letztendlich gelingt ihm das auch (soweit das überhaupt möglich ist), denn die Briefe sind nicht nur rührend, sondern auch sehr einfühlsam abgefasst. Lienekes Vater ist zudem ein guter Zeichner und hat die Briefe schön illustriert. Auch wenn insbesondere diese Briefe ein authentisches Zeugnis von der wahren Geschichte geben – die Handlung des Buchs, wie sie Tami Shem-Tov zusammengefasst hat, steht dem in nichts nach.
Besonders eingenommen hat mich an dem Buch, mit welcher Einfühlsamkeit alles erzählt wird. Die Sprache ist flüssig und dicht zugleich, die schweren Zeiten werden angemessen – weder verharmlosend noch übertrieben – dargestellt. Deswegen kann man das Buch bedenkenlos auch 11-Jährigen an die Hand geben. Selbst die eine Stelle im Buch, wo Lieneke Zeugin einer Gräueltat wird, bleibt dezent, ohne dass die Schrecklichkeit des Vorfalls bagatellisiert wird.
Abgerundet wird das Buch am Ende durch ein kurzes, vor ein paar Jahren entstandenes Interview mit der Lieneke von heute, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem Vater nach Israel ausgewandert ist und dort unter anderem Namen lebt. Ein paar Bilder von Lieneke als Kind, aber auch eines von heute sind dem Anhang angefügt. Letztendlich – das weiß man aber schon vorher – geht die Geschichte also doch gut aus. Trotzdem ist es nicht so, dass dem Buch dadurch die Spannung genommen wird.
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Das Mädchen mit den drei Namen“ ist alles in allem ein Buch über die Judenverfolgung, dem man viele Leser im Alter zwischen 10 und 12 Jahren wünscht, denn die Mischung stimmt. Nicht nur durch die authentischen Briefe wirkt Tami Shem-Tovs Buch glaubwürdig, sondern auch der Rest der Geschichte ist stimmig. Gekonnt schafft es die israelische Autorin kindgerecht und zugleich doch nicht verharmlosend zu schreiben.
Der weiblichen Hauptfigur wegen, aber auch wegen der sanften Schreibart dürfte „Das Mädchen mit den drei Namen“ wahrscheinlich eher Mädchen als Jungen ansprechen – aber dass man dieses Buch nur Mädchen lesen lassen sollte, kann man dann doch nicht sagen. Dass darüber hinaus durchaus auch Erwachsene zu Tami Shem-Tovs Buch greifen sollten, sollte ebenfalls erwähnt werden.
(Ulf Cronenberg, 04.01.2010)
Lektüretipp für Lehrer!
Wer Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren Authentisches über die Geschichte der Judenverfolgung im Dritten Reich nahebringen will, für den dürfte „Das Mädchen mit den drei Namen“ ein Glücksfall sein. Ob in Geschichte, in Ethik oder auch im Fach Deutsch: Tami Shem-Tovs Buch ist für den Schulunterricht in jedem Fall empfehlenswert. Im Zusammenspiel mit anderen Büchern wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ und diversem Filmmaterial kann man daraus hervorragend ein Schulprojekt über das Dritte Reich und die Judenverfolgung gestalten.
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Danke für die Besprechung, das klingt wirklich nach einem spannenden und guten Buch! Für die Zielgruppe der älteren Jugendlichen sei vielleicht noch angefügt, dass 2008 eine neue Ausgabe von „Das Tagebuch der Anne Frank“ erschienen ist – zusammengestellt von der Autorin Mirjam Pressler -, die ein gutes Viertel umfangreicher ist als die bisherige Veröffentlichung. Anne Franks Vater Otto Frank hatte die Originalaufzeichnungen seiner Tochter 1947 in einer gekürzten Fassung herausgebracht, um das Andenken an seine Frau und die anderen Schicksalsgenossen zu schützen. Die erweiterte, neue Fassung enthält sehr offene, ungezwungene Passagen über das oft sehr komplizierte Zusammenleben im Versteck und über Annes erwachendes sexuelles Interesse an einem der Mitbewohner.
Die neue Ausgabe ist wirklich sehr bewegend und empfehlenswert – und vermutlich die perfekte Ergänzung zu „Das Mädchen mit den drei Namen“ (wieso eigentlich drei?), das ich noch nicht kenne. Aber das wird sich ändern.
Hallo Gina,
das mit der Neuausgabe von „Anne Frank“ wusste ich noch nicht. Interessant! Na, dann berichte mal, wie dir Tami Shem-Tovs Buch gefällt, wenn du es gelesen hast. Warum drei Namen? Steht eigentlich indirekt in der Buchbesprechung … 😉 Weil das Mädchen erst Jacqueline, dann Lieneke hieß und in Israel später noch mal einen anderen Namen hatte.
Viele Grüße, Ulf
Oops, ja, das stimmt. Ich hab wieder mal nicht ordentlich gelesen …
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