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Buchbesprechung: Salah Naoura „Der Junge, der auf ein Haus stieg“

Cover: Salah Naoura „Der Junge, der auf ein Haus stieg“Lesealter 11+(Beltz&Gelberg-Verlag 2025, 109 Seiten)

Von knapp 600 Seiten bei Neal Shustermans „All Better Now“ auf knapp über 100 bei dem neuen Kinderbuch von Salah Naoura – wie schnell hatte ich das Buch doch im Vergleich zu Shustermans Dystopie durch … 14 Jahre ist es übrigens her, dass ich ein Buch von Salah Naoura, dem in Berlin geborenen Autor, gelesen habe, und ich kann mich noch gut an „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums”, weil es eine richtig witzig erzählte Geschichte war. „Der Junge, der auf ein Haus stieg“ ist ein etwas ernsteres Buch – das sei schon mal verraten.

Inhalt:

Viktor sitzt auf dem Dach eines Hochhauses in Berlin, und es ist eine längere Geschichte, wie er dort hingekommen ist. Jedenfalls genießt er die Aussicht, schaut dem Treiben auf den Straßen zu, hört den Lärm der Stadt und ist eigentlich ganz zufrieden. Dass der eigentlich ängstliche Viktor über ein Gerüst bis aufs Dach geklettert ist, ist die Folge von einigen Dingen, die vorher schiefgelaufen sind. Und eigentlich fängt alles schon vor einigen Jahren an.

Viktors Vater ist ein Mensch, der den Nervenkitzel braucht und sucht; und um seinen waghalsigen Hobbys wie Fliegen mit einem Wingsuit nachgehen zu können, zieht die Familie in die Schweizer Alpen, obwohl Viktor dort gar nicht hinwill, denn er muss seinen besten Freund Flo zurücklassen. Was Viktor in der Schweiz erlebt, traumatisiert ihn, weil der Vater hochgefährliche Flüge macht; und mehr als einmal hat er Sorge, dass sein Vater sie nicht überlebt.

Auch Viktors Mutter wird das alles zu viel, und irgendwann beschließt sie, dass sie es nicht mehr mit ihrem Mann aushält, trennt sich von ihm und zieht mit Viktor zurück nach Berlin. Doch auch hier läuft es für Viktor nicht so gut, wie er es sich erhofft hatte. Sein Freund Flo ist nicht auffindbar; außerdem wohnen sie bei Tante Pia, die Viktor nicht ausstehen kann … Und nach längerer Zeit steht auf einmal wieder Viktors Vater vor der Tür. Auch er ist zurück nach Berlin gezogen, was Viktor freut, seine Mutter allerdings als ein Problem ansieht.

Bewertung:

Salah Naoura erzählt in „Der Junge, der auf ein Haus stieg“ eine besondere Scheidungsgeschichte. Viktor war oft genervt, weil seine Eltern sich oft gestritten haben. Und mit dem Umzug in die Schweiz war er gar nicht einverstanden und sauer, weil er nicht nach seinen Wünschen gefragt wurde. Als die Mutter zurück nach Berlin will, fädelt sie das etwas geschickter ein – aber auch hier hat Viktor letztendlich nichts zu sagen. Ja, Kinder sind bei Trennungs- und Scheidungssachen leider oft Spielball – das zeigt Salah Naoura sehr anschaulich. Gut kann man sich in die Gefühlswelt des Ich-Erzählers Viktor hineinversetzen: wenn er Angst um seinen risikobereiten Vater hat, wenn er genervt ist von den Streitereien der Eltern, wenn über ihn hinweg entschieden wird.

Für mich gibt es in dem Buch eine längere Erzählsequenz, ein Highlight, das mich besonders gepackt und für das Buch eingenommen hat: Viktors Vater ist zurück in Berlin, wohnt im 4. Stock eines Hochhauses, und Viktor besucht ihn dort das erste Mal. Der Vater lässt ihn kurz allein, weil er etwas holen will – und kehrt ewig nicht zurück. Als Viktor im Treppenhaus nach ihm schauen will, fällt die Tür zu; Viktor steht ohne Handy und Schuhe im Treppenhaus. Und was er dann erlebt, ist einfach cool erzählt. Jedenfalls begegnet Viktor auf der Suche nach Hilfe mehreren Menschen, steht irgendwann auf dem Gerüst am Haus und befindet sich nach mehrere Stationen auf dem Dach. Es sind besondere Erlebnisse und Bekanntschaften, die Viktor auf dem Weg zum Dach macht, wenn er zum Beispiel Juri oder der hübschen Nasrin (mehr sei nicht verraten) begegnet.

Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass „Der Junge, der auf ein Haus stieg“ eine durchdacht aufgebaute Geschichte erzählt: Vergangenheit und Gegenwart fließen gekonnt ineinander, und die Geschichte ist auf das Wesentliche konzentriert – das muss sie bei 100 Seiten aber auch sein. Auf den ersten Blick wirkt alles locker runtergeschrieben, aber es steckt sehr viel Arbeit in dem dünnen Bändchen.

Salah Naouras Kinderbuch ist letztendlich ein Entwicklungsroman. Am Ende ist Viktor ein anderer geworden: selbstbewusster, zielstrebiger – und damit verlässt er auch die Rolle als Statist, der er vorher im kleinen Rosenkrieg seiner Eltern war. Selbst Flo, seinen besten Freund in Berlin, bevor Viktor in die Schweiz ziehen musste, findet er irgendwann durch Zufall wieder; und es gelingt ihm, die Freundschaft wieder aufzubauen.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Der Junge, der auf ein Haus stieg“ zeigt sehr genau aus Sicht eines fast 13-jährigen Jungen, wie es sich anfühlt, wenn Eltern nicht gut miteinander zurechtkommen und sich irgendwann trennen. Salah Naoura versetzt sich konsequent in die Sicht Viktors mit all seinen widerstreitenden Gefühlen gegenüber den eigenen Eltern, zwischen denen Viktor immer wieder steht: Er hat Verständnis für seinen Vater, aber leidet unter dessen Bedürfnis, Nervenkitzel zu suchen und Gefahren einzugehen; er versteht auch seine Mutter, die sich wenigstens zuverlässiger als sein Vater um ihn kümmert, ist aber zugleich nicht mit all ihren Entscheidungen einverstanden.

Salah Naoura beschreibt, wie Viktor, ein sensibler und eher ängstlicher Junge, seinen Weg findet. Es ist gut, dass es solche Bücher gibt, denn das, was Viktor erlebt, dürften – auch wenn für das Buch einiges verdichtet und ein wenig dramatisiert wurde – viele Kinder oder Jugendliche kennen. „Der Junge, der auf ein Haus stieg“ ist ein sympathisches Buch mit einer sympathischen Hauptfigur – und vor allem sehr einfühlsam geschrieben.

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(Ulf Cronenberg, 20.08.2025)


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Kommentare (4)

  1. Britta Kiersch

    Hallo Ulf,
    wennn nur das unglaublich schlechte Cover nicht wäre…
    Wenn ein Verlag möchte, dass ein Buch in der Buchhandlung niemanden neugierig macht, bzw. der geneigte Kunde es garantiert nicht wahrnimmt geschweige denn in die Hand nimmt, dann muss ein solches Titelbild her.
    Viele Grüße,
    Britta

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Hallo Britta,
      ja, ich gebe dir recht, hab das Cover gar nicht so richtig beachtet … Salah Naoura dankt im Buch am Ende übrigens Sarah Pfannmüller „für das außergewöhnlich schöne Cover“. Es passt nur leider wirklich nicht zur heutigen Zeit und damit zu potenziellen Käufer/inne/n.
      Viele Grüße zurück!
      Ulf

      Antworten
  2. Salah Naoura

    Ich muss die Illustratorin in Schutz nehmen, denn der Druck unterscheidet sich farblich leider sehr stark vom Originalentwurf – da ist wohl etwas schiefgelaufen …

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Oder der Verlag hat da sehr bewusst noch mal was geändert, denn Schriftfarben und die Coverillustration sind genau aufeinander abgestimmt … Aber herzlichen Dank für die Rückmeldung, Salah Naoura!

      Antworten

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