(Rotfuchs 2025, 223 Seiten)
Nils Mohls „Henny & Ponger“ war einer meiner Lieblingsromane aus den letzten Jahren – allerdings war ich überrascht, als ich gesehen habe, dass er schon vor viereinhalb Jahren erschienen ist. Es kam mir deutlich kürzer vor. Nun gibt es einen neuen Roman des Autors aus Hamburg, und das Cover von „Engel der letzten Nacht“ gefällt mir ausgesprochen gut. Auf der Webseite von Nils Mohl kann man dazu lesen, dass das Covermotiv, das auf eine Szene am Buchende anspielt, eigens von Brozilla, einem Streetart-Künstler aus Hamburg, für diesen Roman geschaffen wurde.
Inhalt:
Kester hat das Abitur in der Tasche, und seine Klassenkameraden feiern deswegen ausgelassen am Meer. Auch Blanka, seine beste Freundin, ist mit dabei. Kester allerdings fühlt sich beim Feiern – wie so oft – außen vor und insgesamt etwas leer. Die Schule war für ihn ein Selbstläufer und bot ihm Orientierung: Er hat eine Klasse übersprungen, hatte immer beste Noten; doch zugleich hat Kester immer auch eine Distanz zu allen anderen gespürt. Auch wenn er nicht unglücklich ist, so recht weiß er nun nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll.
Eine Diskussion am Strand artet etwas aus. Kester provoziert die anderen, spricht davon, dass es die Nacht aller Nächte geben müsse und dass man dann ja aus dem Leben scheiden könne. Und so wächst in ihm nach und nach die Idee, dass er genau das an diesem Abend erleben könnte: die Nacht aller Nächte, bevor er das Leben hinter sich lässt. Aus diesem Grund leiht er sich von Blanka deren Auto, ohne zu verraten, was er vorhat, und fährt damit – ohne Führerschein – nach Hamburg. Dort will er einiges erleben, und sein erstes Ziel ist der Bunker-Club, in dem er feiern will.
Bewertung:
Es könnte ein kompliziertes Unterfangen werden, wenn man „Engel der letzten Nacht“ bis in den letzten Winkel verstehen will – das sei gleich zu Beginn gesagt. Ich habe jedenfalls Zweifel, ob ich alles im Buch richtig erfasse, aber ich gehe davon aus, dass Nils Mohl den Roman ganz bewusst so angelegt hat, dass jede/r Leser/in eigene Lesarten entwickeln kann und ihn auch anders verstehen darf.
Erzählt wird die Geschichte des Abends, an dem Kester die Nacht aller Nächte erleben will, in drei unterschiedlichen Versionen. Ausgangspunkt ist, dass Kester sich mit dem Auto von Blanka vom Meer aus auf den Weg nach Hamburg macht und dabei einen Unfall provoziert. Und bereits hier kann man das Buch unterschiedlich lesen: Handelt es sich um einen provozierten Suizid von Kester? Hat er ihn überlebt? Oder nicht? Und ist alles Weitere nur eine Art Todesdelirium – ein vorgestelltes Weitergehen seines Lebens? Wie wenn man sein Leben kurz vor dem Tod an sich vorbeiziehen soll – nur eben in die Zukunft gedacht? Das wäre – genauso gut wie anderes – durchaus vorstellbar …
Jedenfalls wird Kester in Variante 1 mit einem Rettungswagen in die Klink gefahren, dort untersucht; und irgendwann stiehlt er sich mit einer Halskrause einfach davon – denn er hat ja Großes vor: Die Nacht der Nächte soll im Bunker-Club beginnen. Dort jedoch wird er vom Türsteher abgewiesen und nicht in den Club gelassen. Kurz darauf wird er von einem schlanken Mann im Anzug angesprochen, der sich als Bruno und etwas später als sein Schutzengel vorstellt. Brunos Mission ist es, so sagt er, die Seele eines Verzweifelten zu retten, um anschließend die Wahl zu haben: entweder Engel zu bleiben oder seinen Frieden finden. Kester lässt Bruno jedoch stehen; und Bruno verspricht ihm, zu jeder vollen Stunde am Bunker auf ihn zu warten – falls Kester doch seine Hilfe annehmen wolle …
Aber auch ohne in den Bunker-Club gelassen zu werden, erlebt Kester etwas. Er lernt Kim kennen, eine abgedrehte Berufssoldatin am Vorabend ihres 20. Geburtstag. Ihr steht ein lebensgefährlicher Einsatz in Litauen bevor – Anlass, um noch mal einen besonderen, einen anderen Abend zu verbringen. In einem Döschen mit mehreren Tütchen Cannabis hat sie auch eine rote und eine blaue Pille („Matrix“ lässt grüßen) dabei und bietet eine davon Kester an …
Das ist schon alles sehr schräg, und die Dialoge, die sich zwischen Kester und anfangs Bruno, später mit Kim entspinnen, wirken fast etwas psychedelisch. Die hier beschriebene Variante 1 der Geschichte heißt übrigens die „Voksfest-Version“, und vor Variante 2, die mit „Räuberpistolen-Version“ überschrieben ist, bekommt man ein Intermezzo auf grauen Buchseiten zu lesen, in dem der Erzähler sich fragt, ob das in der ersten Variante Vorgetragene nun wirklich die richtige Geschichte sei. Sie endet damit, dass Kester, der die blaue Pille genommen hat, ins Wasser springt, um sein Leben zu beenden (so würde ich das zumindest verstehen). Und weil es ja auch anders laufen könnte, bekommt man als Leser/in zwei weitere Versionen des Abends präsentiert …
In ihnen wird unter anderem ein wenig die Vorgeschichte zur Abifeier am Meer beschrieben, es werden aber auch andere Begebenheiten, die Kester in der Nacht durchlebt, ausgeführt. Was mit Bruno und Kim passiert ist, wird in den beiden weiteren Varianten kursorisch in wenigen Absätzen noch mal nachgezeichnet. Ansonsten folgen neue absurde Begegnungen mit schrägen Nachtfiguren. Es ist die Stärke des Romans, dass es keine lebensechten Durchschnittsmenschen sind, denen Kester begegnet, sondern Menschen, die zum Teil an Kipppunkten ihres Lebens stehen. Sie haben gemein, dass sie skurril sind und in skurrilen Momenten mit Kester zusammentreffen. Da geht es um eine Pistole, mit der Kester und ein neuer Begleiter erst bedroht werden, die ihnen später aber das Leben rettet; die Geschichte wird in einen Nachtclub verlegt, in den Kester von einer erfolgreichen Geschäftsfrau eingeladen wird. Und in Variante 3 („Blankas Version“) taucht Blanka auf einmal auch in Hamburg auf. Und es passiert so einiges mehr …
Was bei Nils Mohl nicht fehlen darf, sind Bezüge zu anderen künstlerischen Werken, und ich bin mir sicher, dass ich nur einige davon bemerkt habe. Die Vornamen im Buch sind sicher kein Zufall und beinhalten in ihren verschiedenen Varianten oft einen Bezug zu Gott, Christus oder himmlischen Dingen – das gilt für Kester, aber auch für Kim. Blankas Namen steht für das Weiße und Reine, was durchaus zum Thema Engel passt. Dass der Engel Bruno heißt, ist sicher kein Zufall und dürfte als Reminiszenz an Bruno Ganz gedacht sein, der in „Der Himmel über Berlin“ den Erzengel spielt und so etwas wie den Urtyp eines Engels darstellt. Und mich erinnert im Buch so manches auch an den schon über 25 Jahre alten Film „Nachtgestalten“, der drei Episoden aus einer Nacht erzählt und ebenfalls von seinen skurrilen Figuren lebt. (Nils Mohl taucht übrigens namentlich nicht benannt, aber passend beschrieben mehrmals selbst im Buch auf.)
Fazit:
5 von 5 Punkten. „Engel der letzten Nacht“ ist kein Buch, das man mal so eben runterliest und dann beseelt aus den Händen legt. Nein, es ist ein Buch, das Leser/innen fordert, das man sich erlesen muss, indem man sich damit beschäftigt, die Geschehnisse zu deuten versucht. Die Spuren, die gelegt sind, bleiben mehrdeutig interpretierbar, lassen vieles offen – dem Reiz eines solchen Buchs verfallen wohl eher etwas geübtere Leser/innen, die es mögen, sich mit Büchern auseinanderzusetzen. Und so kann es sein, dass man „Engel der letzten Nacht“ fasziniert liest, aber manchmal auch mit Fragezeichen im Kopf zur Seite legt. Das muss man aushalten.
Ich mag solche Bücher, sofern sie etwas zu bieten haben. Und da gibt es bei Nils Mohls neuem Roman einiges. Es sind wunderschön bizarre Situation, in die Kester gerät. Er trifft auf Menschen, wie man sie wohl wirklich nur trifft, wenn man sich ohne Vorbehalte und mit einer gewissen Wehrlosigkeit (weil man nichts zu gewinnen oder zu verlieren hat) durch die Nacht schlägt und alles auf sich zukommen lässt. Ob Kester sich am Ende das Leben genommen hat oder nicht, ist eine Frage, die jeder Leser, jede Leserin für sich beantworten muss (ich habe meine Antwort, die ich nicht verrate). Aber egal, wie man das sieht: Meiner Meinung nach ist „Engel der letzten Nacht“ weniger ein Buch über Suizid als ein Plädoyer für das Leben, weil es zeigt, dass man im Leben so viel entdecken kann, für das es sich zu leben lohnt, wenn man sich auf die Entdeckungsreise begibt.
(Ulf Cronenberg, 24.04.2025)
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