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Buchbesprechung: Kathrin Schrocke „Weiße Tränen“

Cover: Kathrin Schrocke „Weiße Tränen“Lesealter 13+(mixtvision-Verlag 2023, 214 Seiten)

Ziemlich lange ist es her, dass ich von Kathrin Schrocke ein Buch gelesen habe: Es war 2010, als ich „Freak City“ besprochen habe. Erst dachte ich, dass das seit langem wieder mal ein Jugendroman von ihr ist – aber nach kurzer Recherche war klar, dass Kathrin Schrocke in den letzten Jahren Bücher veröffentlicht hat. Nicht viele, aber ein paar – an mir sind sie jedoch anscheinend vorbeigegangen. „Weiße Tränen“ hat – das sei vorab gesagt – ein heißes Thema, das man aus Cover und Titel erschließen kann: Es geht um Rassismus.

Inhalt:

Lennis Eltern haben ein Bestattungsunternehmen, das am Ort Tradition hat, und würden sich durchaus wünschen, dass ihr Sohn das Unternehmen später übernimmt. Aber jetzt besucht Lenni erst mal das Gymnasium, und wie jedes Jahr plant sein Lieblingslehrer Prasch, der nach dem Schuljahr in Pension geht, mit der Theatergruppe ein Stück aufzuführen. Während Lenni nur für die Technik verantwortlich ist, spielt sein bester Freund Serkan gerne eine Hauptrolle. Prasch macht lange ein Geheimnis daraus, welches Stück er in seinem Abschlussjahr aufführen will.

Benjamin kommt als neuer Schüler in Lennis Klasse, und er eckt gleich am ersten Schultag bei Prasch, der die Klasse in Geschichte unterrichtet, an. Richtig heftig wird es jedoch, als Benjamin, der sich auch mit Serkan gut versteht, mit zur Theatergruppe kommt. Dort sollen alle, die mitspielen wollen, zeigen, was sie können; und Serkan schlägt sich, weil er auch gut singen kann, sehr gut.

Als Prasch das Stück bekanntgibt, nämlich „King Kong“, sind viel überrascht, Benjamin ist aber entsetzt und zeigt das auch deutlich. Dann wird auch noch bekannt gegeben, dass Serkan nicht die Hauptrolle bekommt, sondern King Kong spielen soll. Benjamin, der als Schwarzer seine Vorerfahrungen hat, regt sich fürchterlich auf, weil er das Stück rassistisch findet und weil ausgerechnet Serkan, der eine türkischstämmige Familie hat, King Kong spielen soll – eine Rolle, bei der man nichts zu sagen hat. Seinen Unmut formuliert Benjamin deutlich, er knallt Prasch einiges vor den Latz. Der Lehrer weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Und Lenni versteht auch nicht, was da eigentlich passiert ist …

Bewertung:

Ein spannendes, aber auch heikles Thema hat sich Kathrin Schrocke da ja schon gesucht – sie erwähnt im Nachwort, dass sie vor dem Schreiben des Buchs Beratungen bei einer Antirassismus-Trainerin in Anspruch genommen habe. Wer das Buch unbedarft liest, sich vorher nicht über das Buch informiert, steigt erst mal unvoreingenommen in den Jugendroman ein – das Thema Rassismus kommt erst schleichend in die Geschichte, indem Benjamin auftritt, dann aber gleich mit Pauken und Trompeten.

Benjamin mischt die Theatergruppe und auch den leitenden Lehrer Prasch ordentlich auf. Weil er sich allerdings so überdeutlich und gar nicht konziliant äußert, andere vor den Kopf stößt, bewirkt er anfangs erst mal nichts außer Gegenwehr; und das geht einem als Leser/in durchaus auch so. Es dauert einige Zeit, bis die anderen Figuren (und ebenso man selbst als Leser/in) verstehen, dass Benjamin da etwas Reales anspricht und den Finger diplomatisch ungeschickt, aber passend auf die Wunde legt. Als Erster kann Serkan Benjamins Beweggründe nachvollziehen. Er ist zwar wie schon seine Eltern in Deutschland geboren, hat aber in der Türkei lebende Großeltern. Trotz seiner deutschen Sozialisation hat er schon einige negative Erfahrungen wegen seiner Herkunft gesammelt.

Da sich Serkan und Lenni wegen Benjamin und dessen Auftreten verkrachen und weil Lenni sich auch mit seinem Lieblingslehrer Prasch identifiziert, kommt all das nicht bei Lenni an. Geschickt lanciert Kathrin Schrocke aber auch bei Lenni scheibchenweise die Einstellungsänderung. Verantwortlich dafür ist vor allem Elif, die etwas jüngere Schwester von Serkan, mit der sich Lenni gut versteht, ja, zu der er sich hingezogen fühlt.

Elif hat aus eigenem Antrieb nämlich beschlossen, dass sie aus religiösen Gründen (obwohl das ihre Mutter nicht tut) ein Kopftuch tragen will; und damit erfährt sie auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder Vorurteile, blöde Sprüche und Vorverurteilungen. Lenni bekommt das mit, wenn er mit Elif zusammen unterwegs ist, und dadurch werden auch bei ihm Nachdenkensprozesse angestoßen. Schlimm ist für ihn vor allem, dass auch seine Eltern nicht frei von Vorurteilen Elif gegenüber sind.

Was die Figur Elifs betrifft, so hat mich allerdings ein wenig gestört, dass sie zu durchsichtig auf die Geschichte hin konzipiert ist. Man muss dem entgegenhalten, dass das die Geschichte jedoch zugleich geschickt voranbringt und dazu führt, dass das Thema des mehr oder weniger subtilen Rassismus klar herausgearbeitet werden kann.

Das Buch ansonsten hat einige dramaturgisch gut inszenierte Momente und die Geschichte bleibt nicht vorhersehbar. Das gefällt mir gut. Womit ich aber vor allem im ersten Viertel gehadert habe, waren manche Sätze, die den Hauptfiguren in den Mund gelegt werden – Sätze wie „Ich habe keine Lust, bei den Strebern in der ersten Reihe zu landen“ (S. 20) wirken nur begrenzt authentisch. Welcher Jugendliche sagt bitte „landen“? Aber das sind letztendlich Kleinigkeiten, und im späteren Geschichtenverlauf verlieren sie sich auch.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Man durchlebt als Leser/in von „Weiße Tränen“ genau das, was die Hauptfigur Lenni auch mitmacht: Anfangs ist man von Benjamin genervt, lehnt sein Verhalten und damit auch dessen Beweggründe ab; am Ende hat man verstanden, dass Benjamin aufgrund negativer Erfahrungen zwar überpointiert auf rassistische Äußerungen und Verhaltensweisen reagiert, aber dass er eigentlich recht hat. Kathrin Schrocke gelingt es, das Thema Alltagsrassismus von daher passend an Leser und Leserinnen heranzutragen und bewirkt, dass man für das Thema sensibilisiert wird.

Dass hier und da der Jugendroman, um die Botschaft zu vermitteln, ein wenig überkonstruiert wirkt (vor allem was die Figurenzeichnung angeht), kann man ins Feld führen. Das hat mich an einigen Stellen auch leicht gestört. Die Geschichte liest man dennoch alles in allem gerne und wird auch durch ihre geschickte Dramaturgie (gerade bezüglich der Figur des Lehrer Prasch) zum Weiterlesen animiert. Des Themas wegen wünscht man dem Buch jedenfalls viele Leser/innen – gerade in Zeiten, wo rechtes und damit oft auch rassistisches Gedankengut zunehmend hoffähig wird.

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(Ulf Cronenberg, 27.09.2023)

Lektüretipp für Lehrer!

Für eine 7. (eher am Schuljahresende) oder 8. Klasse kann ich mir „Weiße Tränen“ gut als Lektüre im Deutschunterricht vorstellen. Das liegt nicht nur am Hauptthema Rassismus, sondern auch daran, dass das Buch nah an der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern ist. Wer da als Lehrkraft geschickt herangeht, kann sicher spannende Diskussionen initiieren – zum Beispiel darüber, ob Benjamins Verhalten eigentlich in Ordnung ist. Gerade wenn man Schüler/innen mit Migrationshintergrund in der Klasse hat, kann man eigene Erfahrungen der Betroffenen mit Alltagsrassismus ansprechen. Ein bisschen Mut braucht man dazu allerdings – doch es dürfte sich lohnen.


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