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Buchbesprechung: Anna Woltz „Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte“

Lesealter 10+(Carlsen-Verlag 2016, 175 Seiten)

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das erste Mal über Anna Woltz‘ „Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte“ gestolpert bin. Es war sicher nicht der Luchs im November 2016, den das Buch von Radio Bremen und der Wochenzeitung Die Zeit verliehen bekommen hat. Jedenfalls waren alle Besprechungen des Buchs, die ich gelesen habe, voll des Lobes, und so wollte ich mir eben auch ein Bild machen. Davon abgesehen: Es kann außerdem nicht schaden, wenn hier mal wieder ein Buch für jüngere Leser besprochen wird.

Inhalt:

Die 12-jährige Fitz lebt seit kurzem in einer Art Dauerkrise. Ihre Eltern wollen sich scheiden lassen und leben nun getrennt. Doch mal abgesehen davon, dass das schon schlimm genug ist: Als ihre Mutter dem Vater gegenüber beim Abliefern zum ersten Papa-Wochenende – und Fitz hörte das heimlich mit – auch noch sagt, dass sie sich auf ein Wochenende ohne Kinder freue, wo sie sein könne, wie sie ist, reicht es Fitz endgültig. Sie führt sich so auf, dass ihr Vater alleine mit ihrer jüngeren Schwester Bente draußen in den Schnee geht – mit Fahrrad und Schlitten.

Vom Fenster aus sieht Fitz, wie die beiden später zurückgeradelt kommen; Bente sitzt auf dem Gepäckträger. Kurz vor dem Haus zieht es beiden auf dem spiegelglatten Weg jedoch die Räder unter den Füßen weg und sie stürzen. Für Bente geht der Sturz schlimm aus: Die Kuppe eines ihrer Finger wird abgetrennt, wird jedoch auf dem Boden gefunden und eingepackt. Eine Nachbarin fährt den Vater und die beiden Töchter ins Krankenhaus. Fitz‘ Mutter taucht kurz darauf auch auf …

Fitz steht jedoch mit einer Tigermaske im Krankenhaus – diese hat sie vorher von der Nachbarin über das Gesicht gezogen bekommen, weil Fitz sich vor Wut über ihre Mutter etwas aufs Gesicht geschrieben hat. Als die Mutter von Bente und Fitz da ist, will sie Fitz die alberne Maske abnehmen, doch nachdem sie gesehen hat, was mit Edding auf dem Gesicht steht, zieht Fitz‘ Mutter die Maske schnell wieder über. Und damit beginnt ein seltsamer Tag im Krankenhaus, bei dem Fitz andere kennenlernt und teils schöne, teil schmerzhafte Erfahrungen macht.

Bewertung:

Kinderbücher haben es nicht unbedingt leicht, sich in mein Herz zu schleichen. Sie müssen schon etwas ganz Besonderes haben, um mir zu gefallen, denn schnell bin ich von ihnen gelangweilt: Es kann Witz sein, der mich fasziniert, es kann eine kindergerecht dargebotene Wahrhaftigkeit sein, die mich fesselt – um nur zwei Beispiele anzuführen … Anna Woltz‘ Kinderbuch „Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte“ (Übersetzung: Andrea Kluitmann; niederländisch Originaltitel: „Gips“) war jedenfalls kein Buch, an dem ich schnell das Interesse verloren habe – im Gegenteil.

„Gips“ ist ein erfrischendes Buch. Erfrischend, weil es mit Fitz (die eigentlich Felicia heißt, sich aber angesichts der Trennung ihrer Eltern nicht mehr so nennen lassen will) eine Hauptfigur hat, die einen als Ich-Erzählerin in ihre gerade ziemlich verquere Lebens- und Gefühlslage hineinschauen lässt. Fitz ist unsäglich wütend, reagiert auf alles mit Trotz; weil ihre Eltern sich getrennt haben, versteht sie die Welt nicht mehr. Und als dann ihre Mutter auch noch sagt, dass sie sich auf das kinderlose Wochenende freue, wo sie sich sonst ja immer um die Kinder kümmern müsse, kocht die Wut in Fitz über.

Fitz schreibt sich aus Rache etwas mit einem Edding auf ihr Gesicht, und es ist dramaturgisch von Anna Woltz sehr geschickt gemacht, dass man recht lange nicht erfährt, was dort steht. Meine Neugierde war jedenfalls groß … – und was dann dort stand (nein, ich verrate es nicht!), ist für die Geschichte auch von Bedeutung.

Der Großteil des Kinderromans spielt sich im Krankenhaus ab: Bente wartet auf die Operation ihres Fingers, Fitz dagegen fegt im Krankenhaus herum, lernt dort den 15-jährigen Adam, der ihr sofort gefällt, kennen, sie trifft die am Herzen operierte Primula – die beiden anderen haben so ihre Geheimnisse und Sorgen und sind wie Fitz ebenfalls belebende Figuren. Was sich da im Krankenhaus abspielt, ist schon fast Slapstick: bizarre Situationen, immer mit etwas Übertreibung dargestellt. Aber genau das ist das Faszinierende an „Gips“: Die Übertreibung macht das Buch humorvoll-lustig, lässt den schweren Themen (Trennung der Eltern, Krankheit etc.) trotzdem Raum, verhindert aber, dass man von den Problemen erdrückt wird. Ja, „Gips“ ist komisch, und es hat trotzdem einen lebensernsten Kern.

Womit ich bei Kinderbücher immer wieder Schwierigkeiten habe, ist die Tendenz, sie mit überfriedfertigen Happy Ends auszustatten: Buchdeckel zu, alles wieder in Butter. Natürlich sollte man Kinder nicht ratlos mit offenen und schlimmen Enden zurücklassen, aber es gibt ja auch Nuancen zwischen Katastrophe und Happy End. „Gips“ jedenfalls hat ein Ende, in dem manches geklärt wird, so dass Fitz das Krankenhaus ohne die vorherige Wut verlassen kann – und dennoch bleibt manches offen, insbesondere in Bezug auf die Scheidung der Eltern. Das ist auch dringend nötig: Denn natürlich lässt ein ereignisreicher Tag im Krankenhaus (und es passiert noch mehr als die Operation Bentes) auch geschiedene Eltern, die sich Sorgen um ihre Tochter machen, wieder für ein paar Stunden näher zusammenrücken – aber dass die Familie dadurch wieder zu einer intakten wird, wäre dann doch zu viel des Guten.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ich habe es nicht bereut, mich durch andere Rezensionen zu „Gips“ verführen zu lassen; Anna Woltz hat ein Buch geschrieben, das eine Besonderheit besitzt, die ich an guten Kinderbüchern besonders schätze: eine leichtfüßige Schwere. „Gips“ behandelt Problemthemen, die 10- bis 12-Jährige aus ihrem Leben kennen: dass die Eltern sich trennen, dass man sich in einen älteren Jungen verliebt, dass ein Mädchen am Herz operiert wird etc. Dennoch hat man bei „Gips“ nie das Gefühl, dass man hier ein Problembuch liest.

Hinter dieser Lockerheit stehen einige Finessen: eine gekonnte Dramaturgie beim Erzählen der Geschichte; eine lebensnahe Hauptfigur, die ihre Gefühle auslebt, damit anderen durchaus etwas zumutet, aber dadurch eben auch den Anstoß dazu gibt, dass sich etwas verändert; erfrischende Nebenfiguren; und eine Melange aus vielen Themen, die, wenn man sie aufzählt, den Eindruck hinterlassen könnten, dass es eine Autorin übertrieben hat. Doch das stimmt nicht, das alles wurde bravourös zusammengemixt. Für meinen Geschmack hätte am Ende des Buchs noch ein bisschen genauer herausgearbeitet werden können, wie am Ende des Tages im Krankenhaus Fitz‘ Eltern zueinander stehen, hier bleibt das Buch recht vage – aber das ist vielleicht etwas, was nur ich mir gewünscht hätte. Zu bekritteln gibt es sonst jedenfalls absolut nichts.

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(Ulf Cronenberg, 20.01.2017)

P. S.: Ein bisschen gehadert habe ich hier und da mit der Übersetzung. Auf Niederländisch sagt man zu Ultraschall „echo“, aber im Deutschen eben nicht – im Buch wird das Wort allerdings mehrmals verwendet. Das Wort „Schirmgespräch“ (im Buch für ein Gespräch, bei dem die Eltern ihren Kindern die Trennung bekanntgeben) kenne ich nicht. Wenn man googelt, findet man das Wort vor allem für Bürgergespräche von Politikern unter Sonnenschirmen verwendet. Auf Niederländisch heißt das wohl „paraplugesprek“, was wörtlich übersetzt eben „Schirmgespräch heißt“, aber ich gehe davon aus, dass es dafür in der Fachsprache der Mediation einen anderen deutschen Begriff gibt.

Lektüretipp für Lehrer!

Wer die Buchbesprechung gelesen hat, kann es sich schon denken: „Gips“ ist für 5. Klassen (vielleicht auch noch zu Beginn der 6. Klasse) eine gut geeignete Lektüre. Der Humor wird Schülerinnen und Schülern gefallen, dass es um Themen geht, die Kinder kennen, auch. Und für Lehrer bietet das Buch einiges zum Besprechen, aber auch Möglichkeiten zu kreativen Schreibanlässen.

Kommentare (7)

  1. Gabi Zeiser

    Ich habe es schon vor längerer Zeit gelesen und kann Ihnen nur recht geben – ein tolles Buch!
    Ich fand auch schon „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ sehr gelungen und bin jetzt auf „Hundert Stunden Nacht“ gespannt …

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  2. Andrea Kluitmann

    Eine sehr schöne Rezension, danke!

    Zum Begriff „Schirmgespräch“, die Lektorin und ich haben lange darüber nachgedacht, der Begriff stammt von Peter Hoefnagels, der auch ein Buch über Scheidung geschrieben hat, das sogar auf Deutsch übersetzt wurde und den Titel: „Zusammen heiraten, zusammen scheiden“ trägt.
    Ich fand den erfundenen Titel besser und habe den Titel daher nicht übernommen. Allerdings habe ich die Übersetzerin in der Schweiz kontaktiert, aber sie hat den Begriff „paraplugesprek“ umschrieben, weil es eben keinen entsprechenden Begriff auf Deutsch gibt. Dieser Meinung waren ebenfalls die Therapeuten, die ich gefragt habe.
    Ich hatte zunächst:
    – Mediationsgespräch
    – Kooperationsgespräch (das wird aber eigentlich für freie Mitarbeiter in einem Betrieb benutzt)

    Wichtiger als ein existierender Begriff ist im Roman, dass das Wort ein wenig lächerlich ist, das leisten die obigen Begriffe ja nicht.

    Daher haben wir uns für das Schirmgespräch entschieden, obwohl uns klar ist, dass es auch ganz anders benutzt wird, z.B. wenn Politiker unter einem Sonnenschirm stehen und zum Gespräch einladen.
    Wir meinen, dass er im Kontext gut funktioniert.

    Auch das „Echo“ (nachdrücklich nicht im Rahmen einer Schwangerschaft, sondern bei stumpfen Traumata), war eine wohlüberlegte Entscheidung.

    Die kann natürlich dennoch falsch sein, ich kann gerade nicht mehr feststellen, wie ich gesucht habe, und beim Übersetzen unterlaufen einem ganz bestimmt auch Fehler, ebenso wie Autoren beim Schreiben 🙂 …

    Übrigens kann ich verraten, dasss „Hundert Stunden Nacht“ von Anna Woltz abermals ein umwerfendes Buch ist und ich schon wieder mittendrin bin im nächsten, „Alaska“!

    Herzliche Grüße

    Antworten
    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Liebe Frau Kluitmann,
      das ist aber eine prompte Reaktion, und es ist auch sehr nett, dass Sie das mit dem Begriff des „Schirmgesprächs“ erläutern. Über „Echo“ bin ich allerdings deutlich mehr gestolpert, denn im Deutschen habe ich den Begriff so noch nicht für Ultraschall gehört (steht auch nicht im Duden Universalwörterbuch mit dieser Bedeutung).
      Na, dann bin ich mal auf den nächsten Bücher von Anna Woltz gespannt …
      Herzliche Grüße
      Ulf Cronenberg

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  3. Andrea Kluitmann

    Lieber Herr Cronenberg,
    das „Echo” mag wirklich der falsche Begriff sein, die Lektorin und ich sehen uns die Szenen jetzt noch mal an, fragen einen deutschen Arzt und korrigieren eventuell für die nächste Auflage. Und danken Ihnen fürs genaue Lesen!
    Herzliche Grüße
    Andrea Kluitmann

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    1. Ulf Cronenberg (Beitrag Autor)

      Liebe Frau Kluitmann,
      dann bin ich gespannt, was dabei herauskommen wird. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich darüber informieren würden.
      Herzliche Grüße nach Amsterdam!
      Ulf Cronenberg

      Antworten
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