(Fischer Sauerländer 2025, 572 Seiten)
Der letzte Roman von Neal Shusterman ist schon eine Weile her – aber gut, so ein dickes Buch zu schreiben, bei dem dann im Herbst 2027 Band 2 folgen soll, dauert ein bisschen. Außerdem es gab immer wieder Gerüchte, dass Neal Shusterman auch mit Netflix wegen der Verfilmung seiner Bücher verhandelt – bisher ist mir dazu aber nichts Verlässliches zu Ohren gekommen. Bekannt wurde Neal Shusterman vor allem mit seiner „Scythe“-Trilogie, einer Dystopie, in der die Welt von einer KI beherrscht wird – für mich immer noch sehr lesens- und empfehlenswert.
Inhalt:
Eine neue Pandemie sucht die Menschen heim. Einige Jahre nach Corona breitet sich ein neues Virus aus, das den seltsamen Namen Crown Royale bekommen hat. Etwa jeder 25. Erkrankte stirbt daran, die Symptome sind ähnlich denen von Corona. Die Überlebenden scheinen hinterher allerdings völlig verändert, sie sind glücklich und zufrieden, haben das Gefühl, neue Menschen zu sein. Nach der Genesung ist ihnen alles Materielle unwichtig, sie sind empathisch und zeigen Mitgefühl für das Leiden anderer Menschen; und bis dahin skrupellose reiche Menschen schenken auf einmal all ihr Hab und Gut an Bedürftige.
Was viele als Rettung der Menschheit ansehen, wird von anderen als Bedrohung der Gesellschaft, wie sie bisher besteht, eingeschätzt: Die Wirtschaft droht zu kollabieren, weil deutlich weniger konsumiert wird; die noch nicht infizierten Superreichen sehen ihr Geschäftsmodell bedroht. Darunter ist auch Blas Escobedo, der drittreichste Mensch der Welt, der sich zwar als Menschenfreund sieht, auch viel für die Menschen getan hat, aber auf keinen Fall ein Genesener sein will, der dann alles verschenkt. Seinen jüngsten Sohn Tiburón, der sich meist nur Rón nennt, will er unbedingt auch vor Crown Royale bewahren, weil er mit seiner Blaublindheit zudem ein Risikopatient ist. Doch es kommt anders.
Rón, der vorher durch Zufall Mariel kennengelernt und sich in sie verliebt hat, erkrankt schwer an Crown Royale; in einer Kommune in San Francisco, in der sich Genesene um Erkrankte kümmern, wird er von Mariel gepflegt. Mariel selbst hat kurz vorher ihre Mutter an die Krankheit verloren, sich seltsamerweise aber nicht angesteckt. Und auch bei Rón infiziert sie sich nicht, obwohl sie ständig um ihn herum ist. Als Rón wieder gesund ist, sieht er die Welt in anderem Licht; und er möchte, dass die Welt davon erfährt. Sein Ziel ist es, dass alle Menschen mit Crown Royale infiziert werden und danach bessere Menschen werden.
Bewertung:
Als ich das erste Mal gelesen habe, wie das Pandemie-Virus im Buch heißt, nämlich Crown Royale, habe ich mich schon gefragt, ob sich Neal Shusterman nicht einen besseren Namen hätte aussuchen können. Aber gut, man gewöhnt sich daran, fragwürdig finde ich die Entscheidung allerdings immer noch – es klingt zumindest auf Deutsch einfach seltsam. Aber ansonsten gibt es an „All Better Now“ (Übersetzung: Andreas Helweg; identischer amerikanischer Originaltitel) wenig auszusetzen.
Neal Shusterman zieht seine neue Dystopie (oder liest man hier eine Utopie?) mit den bewährten Ingredienzien seiner bisherigen Bücher auf. Es wird personal aus verschiedenen Perspektiven erzählt, es gibt viele Figuren, die in den Fokus gerückt werden – manche sind Nebenfiguren, die nur mal kurz eine wichtige Rolle spielen, andere bleiben das ganze Buch im Mittelpunkt. Und die Figuren sind fast durchgängig aus einem Kreis schillernder Persönlichkeiten gewählt.
Da gibt es die in Armut mit ihrer Mutter in einem Auto lebende Mariel; da gibt es den drittreichsten Mann der Welt und dessen Sohn Tiburón. Wir lernen eine andere reiche Person kennen, die mit einer gewissen Fiesheit anderen Menschen gegenüber ihr Vermögen vermehrt hat und dabei vor allem auf ihren Vorteil und ihre Interessen bedacht ist; und wir treffen auf die höchstbegabte Morgan, die in eine ungewöhnliche Situation katapultiert wird. Die Liste könnte noch beliebig fortgesetzt werden – Neal Shusterman hatte jedenfalls schon immer ein Händchen für Figuren, die außergewöhnlich sind und mit denen er seinen Plot auf die Spitze treiben kann.
Aber noch mal zurück zur Grundidee: Dass das Überstehen einer Virusinfektion Menschen zu sozialen Wesen macht, selbst bisher alles andere als wohlwollende Menschen, ist schon eine coole Idee – quasi ein viral verbreiteter Sozialismus. Eine solche Idee muss man erst mal haben; und Neal Shusterman exerziert sie in seinem Buch in allen möglichen Szenarien durch.
Nehmen wir mal die oben schon erwähnte reiche und nicht gerade zimperliche Frau namens Glynis Havilland, die irgendwann – wie befürchtet – an Crown Royale erkrankt: Kurz vorher hat sie in weiser Voraussicht eine Nachfolgerin gesucht, der sie allen ihren Besitz und ihr Firmenimperium vermacht, sollte sie an Crown Royale erkranken. Sie will, dass ihre Errungenschaften nicht verlorengehen. Und hier kommt die hochbegabte Morgan ins Spiel, die als 19-Jährige auf einmal einem Firmenimperium vorsteht und sich genauso selbstsüchtig verhält, wie die Dame Havillard es sich erhofft hat. Und was passiert? Glyne Havilland ist nach der überstandenen Infektion geläutert; sie versucht den Machenschaften von Morgan etwas entgegenzusetzen, hat sich mit den Überlassungsverträgen allerdings selbst so sehr geknebelt, dass sie quasi machtlos ist.
Dass sich Neal Shusterman nicht eindeutig festlegt, ob man da eigentlich eine Dystopie und eine Utopie liest, ist nicht neu. Schon die „Scythe“-Bücher stehen irgendwo dazwischen. Die Story in „All Better Now“ liest sich wie eine positive Zukunftsvision, wenn genesene Reiche ganze Stadtteile einem Wohltätigkeitsprojekt vermachen. Und die Welt dort scheint auf den ersten Blick höchst human zu sein, weil alle Menschen hilfsbereit sind, füreinander da sind. Doch dass sich bei einem gekenterten Segelboot dann die Genesenen wie Lemminge ins Wasser stürzen, um die drei Gekenterten zu retten, dabei aber selbst wegen der gefährlichen Strömungen zehn Rettungswillige ihr Leben verlieren, zeigt, dass selbst so eine soziale Utopie ihre Schattenseiten hat. Neal Shusterman ist ein Meister darin, mit solchen Gedankenspielen gesellschaftliche Fragestellungen aufzuwerfen und einen zum Nachdenken zu bringen. Wäre es wirklich wünschenswert, dass Menschen grenzenlos hilfsbereit sind?
Fast 600 Seiten umfasst „All Better Now“, aber sie sind so bravourös erzählt, dass man mit dem Lesen nicht aufhören kann. Es ist nicht nur der Plot an sich, der einen beim Lesen vorantreibt, sondern es ist die einerseits distanzierte, andererseits trotzdem liebevolle, oft aber auch leicht zynische Art, mit der Neal Shusterman seine Figuren beschreibt. Auch das kennt man bereits aus den „Scythe“-Romanen. Neal Shusterman weiß gut und anspruchsvoll zu unterhalten. Es ist ein Vergnügen.
Fazit:
5 von 5 Punkten. Mir gefällt die Idee mit Crown Royale ausgesprochen gut, und Neal Shusterman hat hier ein Gedankenspiel in einen packenden Plot gepackt, dem man sich nicht entziehen kann. Ja, manchmal ist das Buch etwas weitschweifig; doch das stört nicht, weil dieses augenzwinkernde Erzählen, das Neal Shusterman wie kein anderer beherrscht, einen auch durch leichte Längen lotst. Hinter den Geschehnissen in „All Better Now“ steht ein soziales Gedankenexperiment, das einen auf philosophisch-gesellschaftliche Fragestellungen schubst.
Nach „Roxy“ und „Game Changer“, beides gute Bücher, allerdings mit leichten Schwächen, kehrt Neal Shusterman ein bisschen zu seinen Wurzeln zurück. „All Better Now“ vereint eine grandiose Idee mit einer äußerst spannenden Geschichte. Leider heißt es jetzt wohl zwei Jahre auf Band 2 warten – eine lange Zeit. Der Aufhänger für den Folgeband ist am Ende von „All Better Now“ ausgelegt, und ich bin mir sicher: Es wird spannend weitergehen.
(Ulf Cronenberg, 13.08.2025)
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