(Sauerländer-Verlag 2022, 439 Seiten)
Neal Shusterman baut mit seinen Söhnen Jarrod und Brendan fast so etwas wie ein kleines Autorenimperium auf. Mit Jarrod zusammen hat er bisher „Dry“, einen wirklich gekonnten Thriller über eine Wasserkrise geschrieben, mit Brendan hat er für „Kompass ohne Norden“ schon von der Jugendjury den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Dass Neal Shusterman, ob allein oder mit seinen Söhnen, keinen Erfolg hat (zumal er „Game Changer“ auch schon an Netflix verkauft hat), kann man nicht behaupten. Mit „Roxy“ haben er und Jarrod sich wieder eines brisanten Themas angenommen.
Inhalt:
Isaac ist ein erfolgreicher Fußballspieler und erhofft sich ein Stipendium, um studieren zu können. Doch ausgerechnet vor einem entscheidenden Spiel, bei dem ein Spielerscout kommen soll, verletzt er sich schlimm am Knöchel. Er versucht alles, um trotzdem spielen zu können, aber es geht einfach nicht. Und weil seine Schmerzen so schlimm sind, steckt ihm seine Großmutter ein Schmerzmittel zu, das ihm wirklich hilft.
Damit er, weil der Knöchel nicht schnell genug heilt, bald wieder spielen kann, klaut er aus dem Badezimmerkästchen seiner Großmutter weitere Tabletten, doch was er da eigentlich zu sich nimmt und wie gefährlich das Schmerzmittel ist, weiß er nicht. Es dauert nicht lange und er kommt in einen schlimmen Sog: Er merkt, dass er ohne das Schmerzmittel nicht mehr auskommt und als eines Tages die Tablettendose seiner Großmutter leer ist, muss er sich etwas anderes überlegen …
Eigentlich war ja immer seine Schwester Ivy das Sorgenkind der Familie. Ihr Freund ist nicht nur drogensüchtig, sondern dealt auch mit Drogen, schmeißt außerdem wilde und ausufernde Partys. Aber weil Ivy ihn mit einer anderen beim Rummachen erwischt, trennt sie sich von ihm. Ivy erinnert sich daran, dass ihr früher schon mal Tabletten helfen konnten, ihr Leben besser auf die Reihe zu bekommen. Und in der Tat, Ivy lässt sich die Tabletten erneut verschreiben und schafft dadurch Unglaubliches: Sie lernt mit eisernem Willen, schreibt auf einmal gute Noten und verändert ihr Leben. Während ihr Bruder wegen Tabletten langsam abstürzt, geht es bei Ivy stetig bergauf …
Bewertung:
Neal und Jarrod Shusterman haben in „Roxy“ (Übersetzung: Pauline Kurbasik & Kristian Lutze; englischer Originaltitel: „Roxy“) ein sehr ernstes Thema aufgegriffen. In den USA gibt schon lange eine Welle von Drogensüchtigen und Toten, die von süchtig machenden Schmerzmittel ausgeht. Schmerzmittel auf Opioid-Basis, die die Wirkstoffe Oxycodon oder Hydrocodon enthalten, werden häufig verschrieben, und da sie auch rauschähnliche Zustände hervorrufen und extrem schnell abhängig machen, gibt es viele Menschen, die quasi arztverordnet drogensüchtig werden. (Erst vor kurzem hat tagesschau.de berichtet, dass es im letzten Jahr in den USA 107.000 Drogentote gab, über 70.000 davon gehen laut den Statistiken auf Opioide zurück.)
Wer sich nun fragt, wie das Buch zu dem Titel „Roxy“ kommt, dem sei erklärt, dass es in dem Roman neben der oben erwähnten Rahmenhandlung noch eine zweite Ebene gibt, in der verschiedene Drogenarten als Personen auftreten. Roxy heißt dort die Person, die das Schmerzmittel, das Isaac nimmt, verkörpert, während die Tabletten von Ivy als Addison in Erscheinung treten. Roxy und Addison schließen eine Wette ab, die gewinnt, wem es besser gelingt, Isaac bzw. Ivy länger an sich zu binden.
Die Namen Addison und Roxy sind nicht willkürlich gewählt, eben so wie die der anderen Drogen, die personifiziert z. B. als Hiro, Cris oder Lude auftauchen. Addison steht für den Wirkstoff Adrenalin, das auch zur ADHS-Therapie eingesetzt wird; Roxy, das findet heraus, wer etwas recherchiert, dürfte für das Schmerzmittel Roxicodone (mit dem Wirkstoff Oxycodon, der ähnlich berauschend wie Heroin wirkt) stehen – und so lassen sich alle Namen bestimmten Medikamente oder Drogen zuordnen. Personifiziert treffen sich die Drogen immer in einem Club, sie sind oft im Wettstreit miteinander; Al alias Alkohol ist da auch immer dabei. Und es gibt sogar eine Hierarchie unter den Drogen; manche stehen über anderen, haben das Sagen haben, andere sind untergeordnet, manche sogar so gut wie abgeschrieben …
Einfach ist diese Parallelgeschichte nicht immer zu lesen, zumal die personifizierten Drogen sich auch oft sehr verklausuliert mitteilen. Hinzu kommen außerdem an einigen Stellen Intermezzos (man könnte auch italienisch „Intermezzi“ sagen), in denen einzelne Drogen wie LSD zu Wort kommen und etwas kryptisch ihren Werdegang nachzeichnen. All das fordert den Leser ganz schön; und dass ein Schmerzmittel wie Roxy auftritt und sogar mit Isaac kommuniziert, kann man gut finden, man kann es aber auch für fragwürdig halten. Ja, die Umschmeichelungen von Roxy, die Heilsversprechungen, die die Droge macht, das zeigt einerseits, wie Drogen funktionieren. Und trotzdem ist das andererseits ein gewagtes Experiment, das die Lektüre anstrengend macht. Ich war hin- und hergerissen, ob mir die Idee mit den personifizierten Drogen gefällt. Das Problem daran ist jedenfalls, dass das Buch durch die zwei Ebenen seine Geschichte ein wenig fahrig erzählt.
Was die Story um Isaac bietet, ist jedoch ein plausibles Nachzeichnen, wie durch ein opioidhaltiges Schmerzmittel ein junger Mann, der bisher keine großen Probleme hatte und unbescholten war, in eine Sucht hineinrutscht. Will Isaac anfangs nur seiner Fußballkarriere wegen die Schmerzen stillen, gerät er jedoch schnell in eine gefährliche Spirale: Die Schmerzen bleiben länger als erwartet, der Suchtdruck stellt sich schon bald ein, weil durch das Opioid Isaacs Stimmung aufgehellt wird. Und bis letztendlich auch nur irgendjemand bemerkt, was mit Isaac los ist, ist es schon zu spät.
Fazit:
4 von 5 Punkten. Neal Schusterman und sein Sohn Jarrod haben etwas gewagt, nicht nur, weil sie ein heikles Thema aufgegriffen haben, sondern auch weil sie eine eigenwillige Erzählkonstruktion gewählt haben. Im Großen und Ganzen funktioniert das Buch auch, dennoch hat mich gestört, dass die Gespräche der personifizierten Drogen ein wenig zu viel Raum einnehmen und dadurch der Lesefluss zu oft unterbrochen wird. Denn manches, was sich zwischen den Drogen abspielt, ist nicht gerade einfach nachzuvollziehen und schwer zu verstehen. Da ist der Roman schon sehr sophisticated.
Was die Drogengeschichte Isaacs angeht, wird sie plausibel geschildert, einiges jagt einem als Leser einen Schauer über den Rücken und man hält es schwer aus, wie Isaac immer tiefer abstürzt. Alles ist hier geboten: die anfängliche Euphorie, das Gefühl mit der Droge, unbeschwert und unbesiegbar zu sein, dann der erste große Absturz, der Versuch, clean zu werden, schließlich der Totalabsturz. Eine erquickliche Lektüre ist „Roxy“ nicht. Nein, es ist erschreckend zu lesen, dass ein oft verschriebenes Schmerzmittel so tief in die Sucht führen kann. Seien wir froh, dass in Deutschland nicht ganz so leichtfertig wie in den USA mit opioidhaltigen Schmerzmitteln umgegangen wird.
(Ulf Cronenberg, 03.06.2022)
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Gute Besprechung mit einem kleinen Fehler.
Addison ist abgeleitet vom Namen Adderall, einem in den USA verkauften ADHS-Medikament. Wirkstoff ist (vereinfacht gesagt) Amphetamin. Adrenalin hat mit dem ganzen nix zu tun. 😉