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Buchbesprechung: Neal Shusterman „Game Changer“

Cover: Neal Shusterman „Game Changer“Lesealter 14+(Fischer/Sauerländer-Verlag 2021, 399 Seiten)

Mit Neal Shusterman – das sei vorweg gesagt – verbindet mich etwas Besonderes: Auf seiner letzten Lesereise vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich in Würzburg eine Lesung mit ihm und seinem Sohn Brendan moderiert – beide waren wegen der anstehenden Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises in Deutschland (und haben ihn für „Kompass ohne Norden“ dann am übernächsten Tag auch bekommen). Jedenfalls hat Neal Shusterman damals auf meine Frage, an was er derzeit arbeite, mit einer kurzen Zusammenfassung von „Game Changer“ geantwortet. Lange hat es gedauert, bis das Buch nun erschienen ist.

Inhalt:

Ash ist ein ganz durchschnittlicher Junge: weder übermäßig beliebt noch von anderen gemieden – die Stars in der Schule sind jedoch eindeutig andere. Im Football-Team der Schule spielt er auf der Position des Lineback (Veteidiger auf der 2. Linie), auch hier haben andere das Sagen: vor allem Layton als Quarterback (Spielmacher), ein aufbrausender Typ. Layton ist schon länger mit Katie liiert, was Ash wiederum absolut nicht versteht. Denn Layton behandelt Katie oft ziemlich schlecht, und das findet Ash, der selbst ein Auge auf Katie geworfen hat, schlimm.

Eines Tages geschieht während eines Football-Spiels etwas Seltsames. Ash rumpelt heftig mit einem Angreifer zusammen, hinterher ist er ganz benommen und fühlt sich seltsam. Als er mit einem Kumpel im Auto nach Hause fährt, passiert etwas Unerklärliches: Ash fährt mit seinem Auto über eine Kreuzung, und es haben nur Bruchteile einer Sekunde gefehlt, dann wäre das Auto von einem großen Truck, der die Kreuzung von der anderen Seite überquert hatte, erfasst worden. Ash weiß selbst anfangs nicht, wie das passieren konnte, doch später bemerkt er, dass die Stoppschilder an den Straßen blau und nicht mehr rot sind. Deswegen hatte er das Stoppschild übersehen.

Erklären kann Ash sich das nicht. Er glaubt fest, dass Stoppschilder sonst immer rot waren, doch alle Leute, die er fragt, bestätigen, dass sie schon immer blau gewesen seien. Nach und nach merkt Ash, dass sich auch andere Dinge in seiner Welt leicht verändert haben. Als er beim nächsten und übernächsten Footballspiel wieder mit einem anderen Spieler zusammenrauscht, verändert sich die Welt von Ash jeweils erneut – und insbesondere beim dritten Mal dramatischer. So landet er in einer Welt, in der Schwarze und Weiße gesetzlich noch nicht gleichgestellt sind – was heftig ist, weil sein hochbegabter schwarzer Freund Leo auf einmal nicht mehr mit ihm auf die Schule geht, sondern an einer Supermarktkasse arbeitet … Doch das ist noch nicht alles.

Bewertung:

Die Idee zu „Game Changer“ (Übersetzung: Kristian Lutze, Andreas Helweg und Pauline Kurbasik; amerikanischer Originaltitel: „Game Changer“) hat mir schon gefallen, als Neal Shusterman sie auf der Lesung vor zwei Jahren skizziert hat: dass ein Junge in verschiedene Lebenswelten katapultiert wird und da auf einmal in ganz unterschiedlichen Situationen zurechtkommen muss. Dass in einer dieser Welten der amerikanische Rassismus wie vor 60 Jahren Fortbestand hat, ist da nicht die einzige Wendung; die Änderungen betreffen zum Teil auch Ash selbst.

Der Roman ist somit recht philosophisch angelegt – denn im Fortgang der Geschichte steht zunehmend eine Frage im Raum: Ist Ash in den verschiedenen Welten immer noch die gleiche Person? Um nur eines vorwegzunehmen, aber anderes nicht zu verraten: In einer der Parallelwelten ist Ash homosexuell – was er nicht sofort selbst bemerkt. Ob und wie sich das auf sein Denken auswirkt, was das in ihm verändert, versucht der Roman unter anderem darzustellen und auszuloten. Diese Gedankenspiele sind interessant, denn oft habe ich mich schon gefragt, welche Art von Person ich in einer anderen Zeit und Umgebung geworden wäre. Gibt es so etwas wie den Kern einer Persönlichkeit? Oder werden wir zu einem Großteil doch durch unsere Umgebung und die Lebensumstände geformt?

Ash macht im Buch sechs oder sieben solcher Sprünge in Paralleluniversen mit (sie sind durch einen Wechsel der Schrift sowie ein grafisches Zeichen markiert); in der Mitte verharrt er für längere Zeit in der Welt, in der er schwul ist und in der die Rassentrennung noch besteht. So interessant dieses Szenario ist, für meinen Geschmack hat Neal Shusterman hier im Buch zu weit ausgeholt. Hier verliert die Geschichte etwas an Fahrt, sie verliert das Kurzweilige, das sie vorher ausgemacht hat; und das ist etwas schade. Dem Buch hätten in zweiten Drittel 50 Seiten weniger gutgetan. Darüberhinaus gibt es aber noch etwas, über das man geteilter Meinung sein kann.

Die Sprünge in die Parallelwelten werden irgendwann nicht einfach als sich zufällig ereignende Folgen von Zusammenstößen dargestellt, sondern es treten Figuren auf, die über allem stehen und Ash den Vorgang zu erklären versuchen, ihn auch für die nächsten Sprünge anleiten wollen. Das, was hier passiert, ist irgendwie ein wenig Klamauk, so habe ich das empfunden. Das mag manche/r Leser/in witzig finden, ich persönlich fand es eher unnötig – ja, es nimmt der Geschichte etwas der wohltuenden Ernsthaftigkeit, die sie sonst durchweht. Die Quintessenz, dass Ash seine Sprünge in die Paralleluniversen auch ein Stück weit steuern kann, hätte man auch anders unterbringen können.

Ich habe es jedenfalls bedauert, dass die tolle Grundidee für das Buch durch diese beiden Punkte beeinträchtigt wird, denn ansonsten ist die Story unterhaltsam und anregend. Neal Shusterman versteht es immer wieder, Pointen unterzubringen, die Esprit haben. Und er zeigt einerseits, dass unsere Welt nicht perfekt ist, dass sie andererseits trotzdem liebenswert ist, auch wenn es einiges zu verbessern gibt. Homophobie und Rassismus liegen auch im Jahr 2021 nicht völlig hinter uns, aber die Uhr einige Jahrzehnte zurückgedreht haben sie das Leben noch viel mehr bestimmt. Das ist etwas, das einem „Game Changer“ klarmacht.

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Game Changer“ liegt eine grandiose Idee zugrunde (die sich Netflix laut Nachwort von Neal Shusterman schon geschnappt hat und filmisch in einer Serie umsetzen wird), das Buch ist wie alle Bücher von Neal Shusterman humorvoll geschrieben; doch leider hat das Buch in der Mitte vermeidbare Längen und die Rahmengeschichte mit den Edwards hätte es nicht gebraucht. „Game Changer“ ist damit leider nicht Neal Shustermans bestes Buch, und das wurmt mich fast – gerade weil ich Neal Shusterman kenne und seine anderen Jugendromane schätze. Bücher wie „Dry“ oder die Scythe-Reihe (Band 1) haben nämlich keine Längen.

„Game Changer“ leistet trotzdem viel, denn es regt – wenn man es nicht einfach nur als Geschichte runterliest – zum Nachdenken über die eigene Identität an. Die Frage, wer man unter anderen gesellschaftlichen und familiären Bedingungen geworden wäre, bleibt hypothetisch, aber ist interessant. Mich persönlich macht sie zum einen demütiger, zum anderen verständnisvoller für andere. Denn ich bin mir nicht sicher, auf welcher Seite ich zum Beispiel in Zeiten des Dritten Reichs oder anderen schlimmen Zeiten gestanden hätte. Ash verändert im Buch seine Persönlichkeit kaum, aber das liegt daran, dass er ja nicht seine komplette Biografie ändert, sondern in die Parallelwelten mit seinen vorherigen Erfahrungen kommt.

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(Ulf Cronenberg, 10.11.2021)


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