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Buchbesprechung: Judith Mohr „I wie immer ich“

Cover: Judith Mohr „I wie immer ich“Lesealter 12+(Verlag Freies Geistesleben 2025, 251 Seiten)

Es ist noch nicht mal ein halbes Jahr her, da habe ich Judith Mohrs Debütroman „Cole und die Sache mit Charlie“, das für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2023 nominiert war, gelesen – ein durchaus gelungenes Buch. Ich war überrascht, dass nun bereits der zweite Jugendroman der Autorin vorliegt – das ist doch etwas ungewöhnlich … Was das Erstlingswerk und „I wie immer ich“ verbindet, ist, dass es um die Dynamik in einer Familie geht, und interessanterweise ist auch diesmal ein Junge im etwa gleichen Alter der Ich-Erzähler.

Inhalt:

Ja, was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Der 14-jährige Lennox hat mit seinen Kumpels Arne und Thorge auf dem Spielplatz eines Kindergartens auf ein Spielflugzeug groß mit roter Farbe den Spruch „Fickt euch alle!“ gesprüht. Weil er so wütend war. Doch schon kurz darauf wird er von der Polizei gestellt, sein Vater dazu geholt. Und mal abgesehen davon, dass ihm eine Anklage droht, wird Lennox von seinem Vater ordentlich bestraft: Der anstehende Familienurlaub auf Sizilien wird für Lennox gestrichen, er bekommt Hausarrest und das Handy abgenommen.

Doch seine Eltern wollen noch mehr: Zusätzlich zu den Sozialstunden, die er vom Gericht angeordnet ableisten muss, soll er sich auch ein eigenes Sozialprojekt suchen. Und so landet Lennox bei Grit, einer zwei Jahre älteren Rollstuhlfahrerin. Grit ist alles andere als begeistert davon, dass sie von ihren Eltern einen Babysitter an die Seite gestellt bekommt, der sie täglich mehrere Stunden bei Besorgungen und anderem begleiten soll. Und Grit lässt Lennox das auch mit schneidender Schärfe spüren.

Der einzige Lichtblick für Lennox ist seine Tante Mieke, zu der er, während der Rest der Familie im Urlaub ist, zieht. Sie hat Verständnis für Lennox, findet die Reaktionen seiner Eltern übertrieben und unternimmt mit Lennox Sachen, die ihm Spaß machen. Mieke bestärkt ihn auch darin, herauszufinden, warum Grit so kratzbürstig ist. Lennox erfährt schließlich, dass Grit ihren Eltern unbedingt beweisen will, dass sie alleine zurechtkommt, denn sie will in Berlin studieren, was ihre Eltern ihr aber nicht zutrauen.

Bewertung:

Wie schon „Cole und die Sache mit Charlie“ beginnt der Jugendroman mit einem kleinen Paukenschlag – sicher kein Zufall. Als Deutschlehrerin weiß Judith Mohr natürlich, dass die ersten Zeilen und Seiten darüber entscheiden, ob jemand ein Buch weiterlesen will (sofern man nicht schon beim Klappentext hängenbleibt). Lennox wird jedenfalls gleich zu Beginn von zwei Polizisten festgehalten, die gerade den Vater informiert haben, dass dessen Sohn eine Straftat begangen hat. Lennox‘ beide Kumpel Arne und Thorge, die mit dabei waren, haben sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht.

Mal abgesehen davon, dass Lennox sich recht geschickt aus der Affäre zieht und seine beiden Kumpel nicht verpfeift (sondern das seinem Vater überlässt), ist die Situation für Lennox alles andere als angenehm. Als die Polizisten von „Anklage“ und „Gerichtsverhandlung“ sprechen, wird er doch ziemlich nervös. Und was war der Auslöser für den Spruch „Fickt euch alle!“? Stress mit den Eltern wegen schlechter Noten, Lehrkräfte, die mündliche Noten verlesen, und ein Mädchen, das jetzt einen Freund aus der 10. Klasse hat. Der Stress mit den Eltern legt jetzt allerdings noch mal ordentlich zu. Es ist vor allem der Vater, der vehement in die Kiste der konsequenten Erziehung greift: Haus- und Handyverbot, Daheimbleiben statt Urlaub, Nachhilfe und Lernen sowie das schon erwähnte Sozialprojekt.

Judith Mohr schildert sehr genau, wie der Vater brachial streng ist, an Lennox, seinem Verhalten und seinen Noten ständig rumkrittelt. Statt sich mit der Zeit zu beruhigen, wird alles immer verfahrener – selbst Lennox‘ Schwester hält es kaum noch aus, und die Eltern streiten zunehmend mehr. Und was steht hinter all dem? Der Vater will verhindern, dass Lennox wie er selbst früher sein Leben schleifen lässt, falsche Wege einschlägt. Eine einerseits plausible psychologische Dynamik ist es, die hier geschildert wird, andererseits wird sie hier und da doch ein wenig überstrapaziert.

Tante Mieke, bei der Lennox, während der Rest der Familie im Sizilien-Urlaub ist, wohnt, ist das krasse Gegenteil. Eine sympathische Figur, selbst Lehrerin, gut im Zuhören, im Verzeihen und darin, dass sie ahnt, was Lennox eigentlich braucht: nicht gnadenlose Konsequenz, sondern Zuwendung und Verständnis. (Mieke scheint übrigens, das geben Widmung und Nachwort der Autorin her, ein reales Pendant zu haben …) Und Lennox‘ Mutter? Ist ebenfalls lange unnachgiebig, aber steht dann später doch zwischen der Strenge des Vaters und der verständnisvollen Art der Tante.

Neben dem Vater spielt Grit, die Rollstuhlfahrerin, das „Sozialprojekt“ von Lennox, im Zentrum der Geschichte. Obwohl, oder besser gesagt: weil sie so kratzbürstig und direkt ist, gefällt sie mir als Figur. Es dauert lange, bis Lennox ihre weniger abweisende Seite entdeckt. Dennoch bleibt es zwischen Grit und Lennox ein Auf und Ab. Das ist auch notwendig, weil die Geschichte davon lebt; denn das, was zwischen Lennox und seinen Eltern passiert, ist selbst beim Lesen manchmal etwas nervig.

Man kann an „I wie immer ich“ schätzen, dass das Buch eine Geschichte erzählt, die im richtigen Leben fast genau so stattfinden könnte; um interessant zu bleiben, wird aber natürlich einiges verdichtet. Abgesehen von dem Satz „Fickt euch alle!“ ist mir das Buch jedoch unterm Strich ein bisschen zu brav. Das gilt für die Figuren, die irgendwo alle einen guten Kern haben (auch wenn er beim Vater sehr lange, bei Grit recht lange gut versteckt ist). Dass Lennox sich wirklich alles so gefallen lässt, ist etwas zu viel des Guten – man möchte ihn als Leser/in immer wieder mal schütteln und wachrütteln.

Dazu passt die Erzählweise: Es wird durchgehend chronologisch erzählt. Und so gab es beim Lesen immer mal wieder Momente, bei deinen ich den Wunsch verspürt habe, dass die Geschichte etwas mehr auf die Spitze getrieben wird – erzählerisch wie auf der Handlungsebene.

Fazit:

4 von 5 Punkten. Was Lennox erlebt, dürfte durchaus im Leben vorkommen: dass Eltern meinen, mit absolut konsequenter Erziehung ihren Kindern schulisches Phlegma und Fehltritte austreiben zu können. Doch erreicht wird da schnell – eben auch bei Lennox – das Gegenteil: Die Beziehung zu dem eigenen Kind wird massiv belastet; und das bewirkt ganz bestimmt nicht, was es eigentlich soll. Diese Botschaft versteht, wer „I wie immer ich“ gelesen hat, ganz bestimmt. Dass eine pädagogische Reaktion, wie Tante Mieke sie vorlebt, die eigentlich sinnvolle Reaktion auf Lennox‘ Verhalten ist, erschließt sich einem auch. (Man könnte das Buch somit fast Eltern empfehlen …)

Judith Mohr hat die Dynamik in Lennox‘ Familie gut beschrieben. Doch dem Buch fehlt für meinen Geschmack ein kleiner Kick, der es zum hervorragenden Buch macht. Die Figuren – auch Ich-Erzähler Lennox – sind einen Tick zu angepasst. Lennox lässt alles über sich ergehen, findet es zwar furchtbar, hadert damit, aber ist nicht bereit, sich mal aufzulehnen. Mich stört außerdem ein wenig, dass alle Figuren – zum Teil gut versteckt – ein gutes Herz haben. Selbst Arne, der Lennox mobbt, wirkt nicht richtig fies, sondern kommt eher rüber wie ein Jugendlicher, der sich in der Pubertät die Hörner abstoßen muss. Leider ist die Welt in der Realität oft fieser, und Konflikte sind meiner Meinung tiefer in den Menschen verwurzelt, als es in dem Buch gezeigt wird.

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(Ulf Cronenberg, 07.05.2025)


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