(Carlsen-Verlag 2025, 203 Seiten)
Bea Davies hat in den letzten Jahren einige Kinder- und Jugendbücher illustriert, darunter das geniale „Himmelwärts“ von Karen Köhler, in dem sich ihre Illustrationen wunderbar in den Text eingefügt haben. Nun hat die Illustratorin meines Wissens erstmals alleine inhaltlich wie zeichnerisch ein Buch veröffentlicht: eine Graphic Novel. Der Titel ist ungewöhnlich, spielt auf das große Tōhoku-Erdbeben 2011 an, dem über 22.000 Menschen zu Opfer fielen, dessen Tsunami außerdem beim Atomkraftwerk in Fukushima einen Super-GAU auslöste.
In Sendai (Japan) bebt am 11. März 2011 die Erde, ein Mann schlägt jedoch die Warnung, sich sofort auf die Höhe eines Hügels zu begeben, aus, weil er erst mal seine Familie in Deutschland anrufen will. Da das Handynetz zusammengebrochen ist, will er es in einer Telefonzelle versuchen; und während er zu telefonieren versucht, sieht er die große Tsunami-Welle auf sich zukommen. So beginnt „Super-GAU“: mit einem zeichnerischen Prolog fast ohne Worte. Dass der Mann das nicht überleben wird, dürfte klar sein. Und nach einer schwarzen Doppelseite, auf der noch mal Buchtitel und Autorin genannt werden, folgt der Schwenk in die Großstadt nach Berlin.

Der verzweifelte Versuch, noch die Familie in Deutschland telefonisch zu erreichen, endet tragisch … – Seite 15 aus: Bea Davies „Super-GAU“
Bereits nach diesen ersten 15 Seiten des Prologs ahnt man, dass man ein ganz besonderes Buch in der Hand hält. Bea Davies‘ Zeichnungen, alle in Schwarzweiß und Grautönen gehalten, haben mich von der ersten Seite an in den Bann gezogen. Sie sind expressiv, beschönigen nichts, haben ungewöhnliche Blickwinkel. Es gibt Doppelseiten, die eine Szenerie zeigen, es gibt Seiten, die in viele Fenster unterteilt sind. Auf den Prolog folgen dann erst mal Zeichnungen, in denen ein Mädchen wie Superman über eine Stadt hinwegfliegt. Ein Traum, der darin endet, dass das Mädchen, das später als Lea vorgestellt wird, eine Hand, die aus dem Wasser schaut, entdeckt und einen jungen Mann sieht, der später im Buch wieder auftauchen wird.
Lea ist eine von acht Hauptfiguren im Buch. Der 11. März 2011 ist ihr 18. Geburtstag, schon seit langem weiß sie nicht, wo sich ihre Mutter aufhält; Lea wird von einer Frau aus dem Jugendamt, die eine der anderen Hauptfiguren ist, betreut und arbeitet selbst in einer Obdachlosenunterkunft. Die Geschichte springt manchmal sanft, manchmal wild von einer Hauptfigur zur nächsten, erzählt kleine Episoden aus dem Leben dieser Menschen.
Beim ersten Durchschauen von „Super-GAU“ habe ich mich manchmal leicht verloren gefühlt, weil ich die Zusammenhänge zwischen den Figuren nicht vollständig erfasst habe, ich es auch nicht einfach fand, wiederkehrende Personen zu identifizieren. Wahrscheinlich war ich einfach zu flüchtig; ganz leicht ist Bea Davies Buch jedenfalls nicht zu erfassen. Allerdings macht es dann auch Spaß, beim zweiten gründlichen Durchsehen alles zusammenzusetzen – wie bei einem herausfordernden Puzzle. Und man entdeckt dabei immer wieder neue Zusammenhänge.
Die Hauptfiguren stehen alle nicht unbedingt auf der Gewinnerseite. Nacho, ein älterer Mann im besten Midlife-Crisis-Alter, hat zum Beispiel zwei schwere Jahre hinter sich, in denen er sich völlig von der Welt zurückgezogen hat; keine Menschen wollte er sehen, und er tut sich nach wie vor schwer, den Lärm und Trubel der Großstadt auszuhalten. Am Ende der zwei Jahre hat er immerhin angefangen, an einem Roman zu arbeiten, der nun fertig ist. Von seiner Freundin Josie, die Lea als Jugendamtmitarbeiterin betreut und ihren Job nicht gerade mag, hat er sich schon vor einiger Zeit getrennt. Und als Josie sich mit Nacho verabredet, um ihm von ihren Sorgen (es hat etwas mit dem Tsunami zu tun) zu erzählen und Trost zu finden, verhält sich Nacho alles andere als einfühlsam …

Bea Davies richtet jedenfalls den Blick auf die Menschen – auf der Buchseite sind mehrere der Hauptfiguren abgebildet … – Seite 54 aus: Bea Davies „Super-GAU“
Eine wichtige Rolle spielen in der Graphic Novel, auch wenn sie über weite Teile als Nebenfiguren angelegt sind, zwei Außenseiter: Da gibt es eine ältere, vermutlich obdachlose Frau, die vor einem Restaurant sitzt und mehrere leere Bierflaschen neben sich stehen hat; und es taucht in der Obdachlosenunterkunft ein rätselhafter junger Mann mit Verbänden an den Händen auf, der mit niemandem spricht, aber Angst vor dem Schlafen hat. Es ist Lea, die später zu beiden eine lang zurückliegende Verbindung entdeckt. Auf ähnliche Art und Weise werden viele der Erzählstränge im Verlauf des Buchs zusammengeführt.
Die raffinierte Erzählweise im Buch erinnert mich an den Episoden-Film „Short Cuts“ von Robert Altman aus dem Jahr 1993. Hat Bea Davies sich vielleicht sogar an den Film angelehnt, wenn sie Prolog und Epilog nach Sendai verlegt und an den Tsunami anknüpft? Die Episoden in „Short Cuts“ werden u. a. ebenfalls durch eine Naturkatastrophe zusammengehalten: durch ein Erdbeben, das am Ende des Films Los Angeles erschüttert. Aber es ist zu lange her, dass ich den Film gesehen habe (der derzeit auch nirgends zum Streamen angeboten wird), als dass ich hier zuverlässig Schlussfolgerungen ziehen könnte.
Was mir an „Super-GAU“ jedenfalls so gut gefällt, ist dessen Kreativität, die sich auf vielen Ebenen abbildet: in der Erzählweise, in der Bildgestaltung, in der Vernetzung der Figuren, in skurrilen Szenen und in ungewöhnlichen Ideen. Da lässt Lea, die am Fenster in einem oberen Stockwerk raucht, das Feuerzeug fallen und es landet ausgerechnet Nacho vor den Füßen. Der erschrickt gehörig, und dann wird die Geschichte bei ihm fortgesetzt. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen: Eine meiner Lieblingsstellen ist, als sich im Gemeinschaftsraum der Obdachlosenunterkunft ein Kampf um die Auswahl des laufenden Fernsehprogramms entzündet: zwischen der Berichterstattung über den Tsunami in Japan, einem Fußballspiel des FC Köln oder einer Kochsendung. Bea Davies‘ Idee, das darzustellen, ist so einleuchtend wie ungewöhnlich.

Eine meiner Lieblingsseiten: Die Besucher der Obdachlosen-Unterkunft streiten, was im Fernsehen geguckt wird. TV-Zappen grafisch dargestellt … – Seite 110 aus: Bea Davies „Super-GAU“
Fazit:
5 von 5 Punkten. Ich habe ein zweites Lesen gebraucht, um zu erkennen, was für ein Kleinod an Graphic Novel Bea Davies da gezeichnet und erzählt hat. Wie sie die Leben von acht Menschen an einem Tag in Berlin mit dem Tsunami in Japan verknüpft, ist kongenial; und der Titel, der an den Super-GAU im japanischen Kraftwerk Fukushima angelehnt ist, ist wahrscheinlich vor allem eine Anspielung darauf, wie schwer das Leben manchmal ist. Dennoch ist das Buch hoffnungsvoll, weil sich Menschen umeinander kümmern, (wieder) zusammenfinden, schlimme Erlebnisse auf eine gute Art verarbeiten (der Epilog, der wieder in Sendai spielt, ist hierfür ein gutes Beispiel).
Ihre große Kunstfertigkeit beim Zeichnen fasst Bea Davies gut im Buchcover zusammen, wo in jedem der acht Titel-Buchstaben eine der acht Hauptfiguren dargestellt ist (beim E sieht man die Hand des sprachlosen Manns). Wie viel Arbeit in dieser Graphic Novel steckt, mag man nur erahnen; unbestreitbar ist, dass wir hier ein großes Kunstwerk haben: durchkomponiert bis ins letzte Fitzelchen, bewundernd gezeichnet und mit einer menschlichen Tiefe, wie man sie nur in guten Büchern findet. Mir bleibt nur, vor Bea Davies und „Super-GAU“ den Hut zu ziehen. „Super-GAU“ ist für mich ganz klar eines der Bücher des Jahres 2025!
(Ulf Cronenberg, 05.07.2025)
Abdruck der Buchseiten mit freundlicher Genehmigung von Carlsen-Verlags – herzlichen Dank! Die Bild- und Text-Rechte liegen bei den Autorin und dem Verlag.
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