(Carlsen-Verlag 2024, 182 Seiten)
Kinderbücher müssen für mich immer etwas Besonderes haben, damit ich sie gerne lese – mir wird da schnell langweilig. Wenn sie allerdings von Anna Woltz geschrieben sind, sind sie für mich Pflicht – ich mag ihre Geschichten aus ganz verschiedenen Gründen, vor allem aber, weil ihre Figuren und die Geschichten Power haben. Zwei Jahre nach „Nächte im Tunnel“, das für etwas ältere Leser/innen als die meisten anderen Bücher der Autorin gedacht war, gibt es nun wieder ein neues Kinderbuch der niederländischen Autorin.
Inhalt:
Elena sitzt im Zug weg von zu Hause, weil ihre alleinerziehende Mutter für einen Monat in Indien bei einem Yoga-Retreat ist – auch, um sich von ihrer Tochter zu erholen. Den Ferienmonat soll Elena bei der Schwester von ihrer Mutter und deren Familie verbringen: irgendwo in der Pampa. Und Elena weiß überhaupt nicht, was sie erwartet: Sie kennt weder ihre Stiefgeschwister Atlas und Kennedy noch den neuen Mann von Maud, wie ihre Tante heißt.
Elena ist allerdings auch froh, dass sie von daheim wegkommt; denn dort hat sie sich in sozialen Netzwerken in etwas reingeritten … Und so beschließt sie kurzerhand im Zug, nicht nur ihr Handy wegzuwerfen, sondern auch noch ihr Aussehen zu verändern. Mit einer Schere schneidet sie ihre langen Haare ab. Doch am Ankunftsbahnhof wartet nicht, wie vereinbart, ihre Tante auf sie. Stattdessen steht da nur ein Junge mit einem Pferd, den sie nach dem Weg fragt.
Erst auf dem Weg zum Hof, als Maud verspätet doch noch aufkreuzt, stellt sich heraus, dass der Junge Mauds Stiefsohn Atlas ist – richtig peinlich für Elena, die vorher dem Jungen gegenüber über die Familie ihrer Tante gelästert hat. Und auf dem Hof der Familie angekommen warten einige Schrecken auf Elena: Sie soll in einem runtergekommenen Zimmer in einer alten Scheune schlafen; außerdem bekommt sie Aufgaben, was sie alles zu erledigen hat: Klo putzen oder Hühnerstall ausmisten sind nicht gerade Dinge, die Elena gewohnt ist. Und Atlas ist auch ein komischer Kerl.
Bewertung:
Um es gleich vorwegzunehmen: „Atlas, Elena und das Ende der Welt“ (Übersetzung: Andrea Kluitman; niederländischer Originaltitel: „De spin en de sleutel“) ist ein typisches Anna-Woltz-Buch; das bemerkt man schon auf den ersten 20 Seiten. Denn wieder gibt es eine Hauptfigur – in diesem Fall Elena –, die ein Geheimnis mit sich herumträgt: Man erfährt, dass Elena ihr Handy wegschmeißt, sich die Haare abschneidet, man ahnt, dass beides einen Grund hat, aber als Leser tappt man lange im Dunkeln und liest erst spät im Buch, was der Grund für die beiden Aktionen ist.
Im weiteren Buchverlauf kommen weitere Geheimnisse dazu: Was mit Tante Maud los ist, weiß nicht nur Elena nicht, sondern auch für die Leser/innen dauert es, bis man die Hintergründe aufgedeckt bekommt. In der Scheune gibt es eine geheimnisvolle verriegelte Kammer, und Atlas unternimmt seltsame nächtliche Ausflüge. In ihrem neuen Buch treibt Anna Woltz das mit den Geheimnissen auf die Spitze und als Leser/in ist man dankbar dafür, weil man einen Antrieb zum Weiterlesen hat – denn Geheimnisse wollen ja gelüftet werden.
Erzählt wird „Atlas, Elena und das Ende der Welt“ aus zwei Perspektiven. Elena und Atlas sind die Ich-Erzähler, abwechselnd in Aktion, und beide sind interessante Figuren, die sich gut dafür eignen. Elena ist ein aufgewecktes Mädchen, das aus einem ganz anderen Umfeld als Atlas kommt; um schlagfertige Erwiderungen ist sie nicht verlegen. Atlas dagegen hat ein gewisses Nerd-Potenzial und wirkt in vielem zwanghaft … Man denkt dabei gleich an Autismus. Doch man kann im Buch für sein seltsames Verhalten auch andere Erklärung finden.
Die Figuren im Buch sind auch über die beiden Erzähler hinweg genau gezeichnet und haben gut konturierte Persönlichkeiten. Kennedy, Atlas‘ Schwester, ist sympathisch und offenherzig, Elena schießt sie schnell ins Herz. Der Vater ihrer Stiefgeschwister hingegen ist ein eigenbrötlerischer Kauz: nicht gut auf Elenas Mutter zu sprechen und sowieso dagegen, dass Elena überhaupt die Ferienwochen bei ihnen verbringt. Über seine verstorbene Frau wird ein Tuch des Schweigens gelegt.
Atlas und Elena, die so grundverschieden sind, können sich lange gar nicht ausstehen, obwohl man von Beginn an spürt, dass es da durchaus auch eine andere Ebene gibt und sie sich irgendwie auch zueinander hingezogen fühlen. Aber einfach haben es die beiden miteinander nicht – es fällt so einiges vor, was sich zwischen sie stellt. So verfolgt Elena Atlas bei einem seiner nächtlichen Ausflüge, da sie wissen will, was er da eigentlich macht. Und das bleibt nicht unentdeckt.
Weil „Atlas, Elena und das Ende der Welt“ ein Kinderbuch ist, kann man sich aufs gute Ende einstellen. Und es ist vielleicht das Einzige im Buch, was mich gestört hat: dass das, was zwischen Elena und ihrer Mutter auf den letzten Seiten passiert, vielleicht doch zu viel Happy End ist. Vorher gibt es aber erst mal noch einen Showdown: eine richtig brenzlige Situation, in die sich Elena bringt. Und man kann sich vorstellen, wer ihr hilft, sie zu überstehen: Atlas ist hier (die Anspielungen sind mehrfach gesetzt) so etwas wie der Märchenprinz auf weißem Schimmel (der bezeichnenderweise auch noch den Namen King trägt).
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. „Atlas, Elena und das Ende der Welt“ ist nicht ganz mein Lieblingskinderbuch von Anna Woltz, aber es ist nichtsdestotrotz lesenswert – das hatte ich nicht anders erwartet. Den wieder einmal packenden Figuren, die mit sich und ihren Gefühlen nicht so ganz im Reinen sind und denen man gerne folgt, stehen zwei Minuspunkte gegenüber. Sie fallen nicht wirklich stark ins Gewicht, aber das Happy End im Buch und zuvor die brenzlige Situation im Wald werden für meinen Geschmack zu sehr übertrieben dargestellt.
Was bleibt ist dennoch: dass ich Anna Woltz für ihre Figuren immer wieder bewundere. Elena steht in bester Tradition zu anderen Figuren von Anna Woltz – sei es Atlanta aus „Haifischzähne“ oder Fitz aus „Gips“. Sie sind mit Dingen im Leben konfrontiert, die sie überfordern, und tragen eine innerliche Wut in sich, die rausmuss, aber lange zurückgehalten wird. Das nutzt Anna Woltz, um erst mal für ihre Hauptfiguren alles schlimmer werden zu lassen, die innerlichen Konflikte werden auf die Spitze getrieben; am Ende steht nach einem Knall doch so etwas wie eine Katharsis. Das ist ein immer wieder etwas ähnliches Schema, aber es funktioniert und macht beim Lesen Spaß. Und das kann man eindeutig auch über „Atlas, Elena und das Ende der Welt“ sagen.
(Ulf Cronenberg, 15.09.2024)