(mixtvision-Verlag 2024, 140 Seiten)
„Beat vor der Eins“ ist ein etwas kryptischer Titel, auf den ich mir keinen Reim machen konnte. Er spielt natürlich auf Musik an – mehr habe ich allerdings nicht verstanden. Der Pressetext von mixtvision hilft einem aber weiter: Gemeint ist das „Gefühl, auf der Stelle zu treten – ein Leben in einer endlosen Warteschleife, im ’Beat vor der Eins, die nicht kommt.‘“ Alexandra Helmig ist im Jugendbuchbereich anscheinend eine neue Autorin, ihr bisheriger Schwerpunkt lagen eher bei Drehbüchern und Theaterstücken. „Beat vor der Eins“ ist meines Wissens ihr Debüt im Jugendbuch …
Inhalt:
Ina ist 15 Jahre alt und lebt bei ihren Eltern – doch in der Familie ist wenig gut. Ihr Vater ist viel beruflich unterwegs, sorgt aber vor allem auch immer wieder für große Krisen bei Inas Mutter, weil er Affären mit anderen Frauen hat. Inas Mutter ist dann am Boden zerstört, gibt die Parole „Wir schaffen das!“ aus, und wenn der Vater wieder zurückkehrt, wird so getan, als wäre alles wieder in Ordnung. Ina ist das alles leid.
Dann tritt Phil in ihr Leben. Ina ist sofort von ihm fasziniert, und weil sie sich irgendwann doch traut, auf ihn zuzugehen, sehen sie sich bald öfter. Phil scheint sich auch zu Ina hingezogen zu fühlen – obwohl Ina sich selbst wenig attraktiv findet. Irgendwann beginnt eine zaghafte Beziehung, die jedoch auf die Probe gestellt wird, weil Ina in den Ferien für einige Zeit nach Frankreich in eine Gastfamilie geht.
Doch auch Frankreich ist keine Pause von dem anstrengenden Leben zu Hause. Schon beim Abholen bemerkt sie, dass ihr Gastvater kein angenehmer Typ ist und Ina lüstern hinterherschaut. Die Gastmutter dagegen findet Ina immerhin sehr sympathisch, doch sie ist mit dem kleinen Baby des Paares auch viel eingespannt. Ina macht sich immer mehr Sorgen, dass der Gastvater sie bedrängen könnte.
Bewertung:
„Beat vor der Eins“ liest sich nicht wie ein normaler Jugendroman in Prosa, sondern ist in einer seltsamen Mischung aus Prosa, freien Versen und Bewusstseinsstrom geschrieben. So ganz zuordnen kann ich nicht, was das für ein Schreibstil ist – schon beim Reinschauen ins Buch fällt jedenfalls auf, dass jeder Satz einen eigenen Absatz hat. Ich würde das am ehesten als bewusstes Schreiben bezeichnen, und es hat seinen Reiz …
Die komplizierte und schwierige Familiensituation von Ina wird anschaulich vermittelt; ebenso das Unbehagen, das Ina mit sich und ihrem Körper hat. Sie ist ein Mädchen, das viel an sich zweifelt, wenig Selbstbewusstsein hat. Das spitzt sich insbesondere zu, als sie Sängerin in einer Band wird und dann einen Auftritt hat. Vor Aufregung geht der völlig schief; und damit hat sich dann das Thema Singen für Ina erledigt. Phil konnte gottseidank nicht zu dem Konzert kommen, obwohl Ina ihn eingeladen hatte. Sie ist froh, dass er diesen peinlichen Auftritt nicht mitbekommen hat …
Die erste Hälfte des Buchs fand ich gut, weil sie die seltsame Familiensituation von Ina und die Nöte, die sie damit hat, beschreibt. Sie wird von ihrer Mutter instrumentalisiert, aber es gelingt ihr so einigermaßen, sich nicht zu sehr in die Schwierigkeiten der Eltern reinziehen zu lassen. Als Ina dann jedoch in Frankreich ist, von dem lüsternen Gastvater bedrängt wird, kippt die Geschichte. Ins Spiel kommt neben dem Gastvater noch der Bruder der Gastmutter, der zwar im Gegensatz zum Gastvater, nicht übergriffig ist, aber dennoch ebenfalls auf Sex mit Ina aus ist.
Als der Gastvater Ina dann eines Nachts wirklich bedrängt, sich zu ihr ins Bett legt, sie berührt, nimmt das Buch eine problematische Wendung. Doch es kommt noch schlimmer: Nicht sehr viel später übernachtet Ina beim Bruder der Gastmutter und verbringt die Nacht mit ihm im gleichen Bett – am Ende stimmt sie zu, dass er mit ihr schläft (immerhin fragt er, ob es ok ist). Wie kann man diese beiden Erlebnisse einer 15-Jährigen so dermaßen schnell und lakonisch abhandeln? Der sexuelle Übergriff des Gastvaters hat nur zur Folge, dass Ina davon irgendwann ihrer Gastmutter berichtet, die das als letzten Anstoß für die Trennung von ihrem Mann sieht. Mehr wird da nicht drüber geschrieben …
Wie es Ina nach diesen beiden Erlebnissen geht? Wie sie den sexuellen Übergriff des Gastvaters und ihr ungeplantes, nicht gerade schönes „erste Mal“ verarbeitet? Das wird im Prinzip nicht thematisiert – und das geht meiner Meinung nach in einem Jugendbuch gar nicht. Die Leser/innen werden hier alleingelassen. Später kommt dann noch die Sorge hinzu, dass Ina schwanger ist – Anzeichen dafür gibt es durchaus. Das wird mit all den Sorgen und Befürchtungen etwas ausführlicher als der sexuelle Übergriff behandelt, aber wie das dann schließlich abgehakt wird (neben einer weitere problematischen Verwicklung, die Inas Vater betrifft), hat mich ebenfalls gestört. Es hat mich wirklich ratlos zurückgelassen, wie schludrig die schwierigen Dinge in Inas Leben behandelt werden.
Fazit:
2 von 5 Punkten. Mit der ersten Hälfte von „Beat vor der Eins“ konnte ich ganz gut leben, auch wenn sie noch etwas packender hätte sein können. Aber hier wird zumindest zielgruppengerecht geschrieben … Doch als die Geschichte dann nach Frankreich zur Gastfamilie verlagert wird, war ich nur noch entsetzt, was hier passiert und wie es dargestellt wird. Nein, so schwere Themen wie einen sexuellen Übergriff durch einen Erwachsenen und die Sorgen wegen einer möglichen Schwangerschaft kann man, wie Mixtvision angibt, so unbearbeitet eben nicht 14-Jährigen vorsetzen. Und auch wenn ältere Jugendliche das alles vielleicht besser wegstecken können: Ich finde nicht, dass man das alles so thematisieren kann.
Was will das Buch eigentlich erzählen? Was will es sagen und vermitteln? Ich weiß es nicht. Natürlich passieren Dinge, wie sie im Buch beschrieben werden, im realen Leben. Aber sie einfach so hinzuwerfen in einem Roman – ohne weitere Bearbeitung? Ich finde das fahrlässig, es ist meiner Meinung nach unverantwortlich. Was fehlt, ist, dass mindestens die Schwere dessen, was Ina mitmachen muss, ausreichend beleuchtet wird. Und man sollte zumindest ansatzweise thematisieren, wie eine junges Mädchen solche Verletzungen und schwierigen Lebenssituationen verarbeiten kann.
(Ulf Cronenberg, 29.06.2024)