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Buchbesprechung: Kevin Brooks „Long Road“

Cover: Kevin Brooks „Long Road“Lesealter 14+(dtv 2024, 281 Seiten)

„The Road of the Dead“ war das Buch von Kevin Brooks, für das er 2009 von der Kritikerjury in der Sparte Jugendbuch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Für mich war das Buch, auch wenn ich die Gewalt darin zum Teil etwas abschreckend finde, der Höhepunkt von Kevin Brooks‘ bisherigem Schaffen. Es gab noch andere Jugendromane des Engländers, die ich sehr mochte (darunter „Black Rabbit Summer“) – aber an die Dichte von „The Road of the Dead“ kam nichts heran. Und nun, gut 15 Jahre später, schickt Kevin Brooks die Brüder aus dem Roman erneut in eine Geschichte.

Inhalt:

Ruben und Cole sollen bei einem Kneipenbesitzer in einem Umschlag Fahrzeugpapiere abliefern. Doch dabei werden sie Zeuge davon, wie in der Kneipe ein Mädchen von drei Männern belästigt wird. Cole, der ältere und waghalsigere der Brüder, das spürt Ruben, hat vom ersten Moment an eine besondere Verbindung zu dem Mädchen. Und so kann Cole das, was passiert, nicht einfach geschehen lassen und überlegt, wie er das Mädchen aus der brenzligen Situation retten kann.

Ruben klaut dafür ein Auto, Cole gelingt es, das Mädchen aus der Kneipe zu bringen – das ist angesichts der drei stadtbekannten Gangster, um die es sich bei den drei Männern handelt, alles andere als einfach. Mit dabei ist ein kleiner Affe, wegen dem das Mädchen überhaupt mit den drei Männern in Streit geraten ist. Trina, wie das Mädchen heißt, konnte nicht zulassen, dass der kleine Affe schikaniert wird.

Doch was macht man mit einem Affen? Ruben findet heraus, dass es in Schottland ein Monkey House gibt, wo Affen in natürlicher Umgebung versorgt werden. Weil sie sich Sorgen machen, dass sie von den dreien Gangstern verfolgt werden könnten, beschließen sie, London den Rücken zuzukehren und wirklich nach Schottland zu fahren. Doch bald merken sie, dass sie verfolgt werden; und ihre Sorgen werden größer, als sie auch noch bemerken, dass der geklaute Mercedes dem Chef der drei Kriminellen gehört. An der Raststätte, an der sie halten, tauchen dann die drei mit Verstärkung auch tatsächlich auf …

Bewertung:

Was mich vor 15 Jahren an „The Road of the Dead“ fasziniert hat, war neben der dichten Atmosphäre und der packenden Handlung vor allem die Figur Rubens, des 14-jährigen jüngeren Bruders von Cole. Ruben hat übersinnliche Fähigkeiten: Er kann sich sehr gut in andere reinversetzen, erspüren, was in ihnen vorgeht. Zugleich kann er allerdings mit Gewalt gar nichts anfangen, kommt aber durch seinen Bruder ständig in ihren Strudel … Das ist auch in „Long Road“ (Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn; identischer englischer Originaltitel) nicht anders.

Cole, der 16-jährige ältere Bruder, ist da ganz anders. Er tut sich mit Gefühlen schwer und ist richtig unbeholfen darin, Trina, zu der er sich hingezogen fühlt, gegenüberzutreten. Ansonsten ist es für Cole das Wichtigste, die Menschen um sich herum zu beschützen; und wenn er dabei Gewalt anwenden muss, schreckt er nicht davor zurück. Ein ungewöhnliches Brüderpaar sind die beiden jedenfalls, sie ergänzen sich aber nicht nur gut, sondern haben auch großes Vertrauen in den jeweils anderen.

Die Story mit dem Äffchen in „Long Road“ ist etwas irritierend, weil sie ein wenig weit hergeholt wirkt. Wie Kevin Brooks auf diese Idee gekommen ist? Ich habe keine Ahnung. Allerdings kann man das Äffchen auf mehreren Ebenen auch metaphorisch deuten: Es ist gefangen, lebt in einem Käfig, wird herumgeschubst, später wird es befreit – und am Ende … Nein, das wird hier nicht verraten. Der Affe ist eindeutig mehr als ein Tier, das mal eben so in einem Buch vorkommt.

Wie alle Bücher von Kevin Brooks übt auch „Long Road“ auf einen als Leser/in einen großen Sog aus, weil man wissen will, wie die Geschichte weitergeht. Diesbezüglich ist der neue Roman vielleicht nicht der spannendste von Kevin Brooks; und man muss mit der Gewalt – wie sonst auch – zurechtkommen. Aber Spannung kennt das Buch eindeutig – allerdings mit Höhepunkten an ungewöhnlichen Stellen: nämlich nicht vor allem in einem großen Showdown am Ende, sondern auf mehrere Stationen im Laufe des Buchs verteilt. Das Ende plätschert da fast etwas dahin. Ungewöhnlich für Kevin Brooks.

Was die übersinnlichen Fähigkeiten von Ruben, die mich in „The Road of the Dead“ so angesprochen haben, angeht, so hat es Kevin Brooks für meinen Geschmack diesmal etwas übertrieben. Es gibt Stellen, da kann Ruben Dinge bei seinem Bruder oder Trina miterleben und beschreiben, bei denen er selbst nicht mal zugegen ist. Das eröffnet zwar ganz neue Erzählwege, aber geht dann doch über ein noch irgendwie erklärbares Gespür und Einfühlungsvermögen für andere Personen hinaus.

In Bezug auf die Kämpfe im Buch – sei es an der Autobahnraststätte oder an späterer Stelle in einem Hotel –, so spart Kevin Brooks an nichts. Es geht ordentlich zur Sache. Eine Zwangsprostituierte spielt auch noch eine Rolle. Dass Cole mit Unterstützung von Ruben, Trina und Finn, den Trina an einem Rastplatz aufgabelt und zur Mitfahrt einlädt, sich gegen berufsmäßige Kriminelle mehrmals durchsetzen, ist allerdings schon sehr dick aufgetragen. Das sind fragwürdige Buchmomente, die sich jedoch durch Kevin Brooks‘ große Jugendbuch-Bibliografie ziehen.

Auch wenn man diese Stellen immer mit ein wenig Atemlosigkeit verfolgt, das Buch nicht aus der Hand legen will, mir würde es dennoch gefallen, wenn hier ein bisschen Mäßigung Einzug halten würde … Für mich sind die besseren Stellen im Roman die, wenn Ruhe einkehrt, wenn Ruben über sich, seinen Bruder, seine Eltern oder über die Figuren, die ihm begegnen, nachdenkt, sich Sorgen macht und seine menschliche Seite zeigt. Die Stimmungen, die Kevin Brooks hier erzeugt, zählen nämlich auch zu seinen Stärken.

Fazit:

3-einhalb von 5 Punkten. In den letzten Absätzen klingt mehr Kritik an, als „Long Road“ vielleicht verdient hat. Das mag daran liegen, dass die Fallhöhe für eine Fortsetzung von „The Road of the Dead“, dem vielleicht besten Buch von Kevin Brooks, besonders groß ist. Mit Kevin Brooks‘ Romanen kommt sowieso nicht jeder zurecht. Man muss die Gewalt darin, auch wenn sie nicht verherrlichend ist, aushalten können; sie ist Vehikel für Grenzsituationen, in die Kevin Brooks seine Figuren immer wieder bringt, in denen sie sich beweisen müssen. Ruben als Erzähler ist da die passende sympathische Figur, denn er mag Gewalt nicht, sie widerstrebt ihm.

„Long Road“ erzählt von einer Flucht, handelt von einem ungewöhnlichen Roadtrip. Spannung ist durch die Verfolgungsjagd allemal gegeben. Dennoch: Manches hätte man im Buch vielleicht noch besser ausschmücken können (z. B. das Aufeinandersitzen im Auto). Kevin Brooks hat dichtere, stimmigere Bücher geschrieben – eindeutig. Wer Action und Spannung mag, der ist dennoch mit dem Buch gut bedient. Ohne Zweifel. Mit einem kritischeren Lektorat wäre bei Kevin Brooks’s neuem Roman jedoch meiner Meinung nach noch mehr drin gewesen. Dass der anfangs ausgelegte Hintergrund der Verhaftung von Rubens Eltern am Ende gar nicht mehr aufgegriffen wird, zeigt beispielsweise, dass da nicht alles zu Ende gedacht ist.

Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich ja jetzt gerne noch mal „The Road of the Dead“ lesen und schauen, ob mein Vergleich zwischen den beiden Büchern stimmig ist. Aber ich glaube, dazu komme ich dann doch derzeit nicht …

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(Ulf Cronenberg, 12.04.2024)


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