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Buchbesprechung: Maja Ilisch „Unten“

Cover: Maja Ilisch „Unten“Lesealter 10+(Dressler-Verlag 2023, 301 Seiten)

Mit der Besprechung von „Unten“ bin ich recht spät dran, denn das Kinderbuch ist schon vor einem Jahr erschienen. Das ist angesichts des Neuerscheinungstakts, den die Verlage haben, schon fast Lichtjahre entfernt. Aber als ich neulich vor meinem Stapel ungelesener Bücher stand, um die nächste Lektüre auszuwählen, hat mich der Kinderroman angelacht. Gehört hatte ich vorher einiges über das Buch, das nur einem Haus in verschiedenen Stockwerken spielt – letztendlich hab ich mir allerdings etwas völlig anderes vorgestellt, als ich dann bekommen habe.

Inhalt:

Nevo lebt mit ihrer Mutter in einem Haus mit vielen Stockwerken. Das ganze Leben spielt sich dort ab. Ihre beste Freundin ist Juma, und gemeinsam verbringen sie ihre freie Zeit meist im Hausflur, wo man allerdings weder rennen noch laut sein darf. Da die beiden jedoch einen großen Bewegungsdrang haben, halten sie sich oft nicht daran, und werden dann über die Lautsprecher wegen des Rumrennens getadelt; und das ist nicht ganz ungefährlich: Es könnten ihren Familien die Wohnungen gekündigt werden. Wie die Hausverwaltung das mit dem Rumrennen überhaupt mitbekommt, ist ihnen ein Rätsel.

Als die beiden wieder einmal verwarnt werden, tauchen Mitarbeiter der Hausverwaltung auf; Juma und Nevo müssen schauen, dass sie sich vor ihnen verstecken. Juma kommt auf die Idee, in den Wäscheschacht zu klettern, doch dort ist nur für sie, nicht für Nevo Platz. Nevo flüchtet sich deswegen in die Wohnung eines alten Mitbewohners. Doch als Nevo später nach Juma sucht, ist diese verschwunden und nicht mehr auffindbar. Am nächsten Tag wird es jedoch noch seltsamer: Statt Juma lebt ein anderes Mädchen bei Jumas Eltern; Jumas Eltern und auch Nevos Mutter behaupten, dass sie keine Juma kennen.

Nevo kann sich nur folgenden Reim darauf machen: Juma muss im Wäscheschacht nach unten gefallen sein – immerhin meint sie, dass man nach vielen Stockwerken weich auf einem Wäscheberg landen müsse. Und so macht Nevo sich verbotenerweise auf den Weg Stockwerk für Stockwerk nach unten, um Juma zu suchen, obwohl das gefährlich ist. Denn man kommt zwar über die Treppen nach unten, darf aber nicht wieder nach oben – das ist Gesetz in dem Haus. Nevo weiß also weder, ob sie Juma finden wird noch ob sie jemals wieder zurückkehren kann.

Bewertung:

Ich hatte oben ja schon erwähnt, dass ich eine gänzlich andere Vorstellung von „Unten“ hatte. Was ich erwartet habe, war eine Geschichte, die in einem Mehrfamilienhaus spielt, wo die Kinder verschiedener Stockwerke vieles zusammen erleben. Doch „Unten“ ist ein eigenwilliges Buch, das eine skurrile Geschichte erzählt und ein Szenario schildert, das man dystopisch nennen kann. In die Geschichte muss man erst mal reinfinden.

Das Haus, in dem Nevo lebt, hat unzählige Stockwerke, zwischen denen man sich nicht bewegen darf. Benannt sind die Stockwerke nach Farben und innerhalb der Farben sind die Stockwerke noch mal nummeriert (Nevo lebt zum Beispiel in Zinnober 4). Wie viele Stockwerke das Haus hat, weiß niemand. Und wer eigentlich die Hausverwaltung ist und wie sie die Bewohner überwacht, kann auch niemand sagen. Aber klar ist, dass oben die besser gestellteren Menschen leben, während die Menschen weiter unten immer weniger Privilegien haben und ärmer sind. Auch die Wohnsituation wird weiter unten immer weniger komfortabel.

Nevo erlebt auf der Suche nach Juma ziemlich seltsame Dinge. Am Ende des Wäscheschachts kommt sie irgendwann im Stockwerk der Wäscherei an und trifft dort eine Frau, die in der Nachtschicht nichts anderes tut, als einen Wäschewagen ständig durch die Gänge zu schieben. Die Frau hilft Nevo verbotenerweise; aber auf Juma trifft Nevo dort nicht, und sie zieht deswegen weiter.

Das Buch erzählt im weiteren Verlauf durchaus auch einige leicht gruselige Szenen. Also Nevo zum Beispiel probeweise wieder ein Stockwerk nach oben gehen will, hindern sie daran im Treppenhaus automatisch feuernde Gewehre, die dort installiert sind. Immer wieder muss sich Nevo auch vor Menschen verstecken und begegnet einigen Gefahren. Man kann sich das alles gut als Computerspiel oder Film vorstellen – das Buch wäre als Vorlage für beides durchaus geeignet.

Humorvoll und bizarr wird der Kinderroman an anderen Stellen. Da gibt es im späteren Verlauf Ratten, die Menschen verstehen und mit ihnen nonverbal kommunizieren können, sofern man sich darauf einlassen kann. Es gibt von Müll verstopfte Stockwerke oder ein Stockwerk, wo der Boden von großen Löchern durchzogen ist. Die Menschen, die dort leben, wissen sich allerdings zu behelfen: Möbelstücke und Teppiche werden über die Löcher gestellt. Und wer sich im Flur bewegen will, muss durch Betten, über Schränke und Vitrinen hüpfen – und das alles im dunklen Dämmerlicht.

Das ist alles virtuos konstruiert, aber in mir tauchte (vor allem gegen Ende) auch immer wieder die Frage auf, was einem das Buch eigentlich sagen will. Auf den letzten 50 Seiten, als Nevo das Stockwerk der Hausverwaltung erreicht, nimmt der Kinderroman eine Wendung, in die man durchaus Freigeistiges reinlesen kann: ein Plädoyer gegen sinnfrei auferlegte Reglementierungen und Regeln. Solche Interpretationen sind aber wohl eher eine Erwachsenensicht, die sich lesenden Kindern nicht erschließen dürfte. Nachzuvollziehen ist aber: Nevo bewirkt mit ihrer Unerschrockenheit und Beharrlichkeit am Ende etwas. Mehr sei aber nicht verraten …

Fazit:

4 von 5 Punkten. Ja, was ist „Unten“ eigentlich? Ein Abenteuerroman? Eine Dystopie? Eine Freundschaftsgeschichte? Eine Parabel? Ich weiß nicht, was 10- oder 11-Jährige in dem Buch sehen; vermutlich lesen sie es am ehesten als Freundschafts- und Abenteuergeschichte, und als solche dürfte es auch funktionieren. Erwachsene könnten darin dagegen eine Parabel erkennen, die entweder eine Reise ins immer ungeordnetere Unterbewusstsein (also in die tieferen Stockwerke) widerspiegelt oder ein Infragestellen von übertriebenen Regeln thematisiert. Die Story ist jedenfalls ziemlich bizarr und im Kinderbuchbereich etwas ziemlich Einmaliges.

„Unten“ hat etwas Beklemmendes, immer wieder Bedrohliches – aber all das wird so erzählt, dass man es auch Kindern zumuten kann. Die Story hat durchaus einen Sog: Je weiter Nevo nach unten kommt, umso weiter wird man in die Geschichte hineingezogen. Die Spannung kann man dabei als subtil bezeichnen, aber sie ist da, weil man sich fragt, wie es von Stockwerk zu Stockwerk nach unten weitergeht und ob Nevo Juma finden wird. Wovon das Buch ansonsten lebt, sind die ausgefallenen Ideen, die Maja Ilisch in die Geschichte bringt, während die Figuren – das passt wiederum zur Parabel – eher schematisch und schablonenhaft bleiben. Lediglich Nevo kommt man nahe.

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(Ulf Cronenberg, 05.02.2024)

P. S.: Die Idee für „Unten“ erinnert mich in einigem an die Roman-Trilogie und TV-Serie „Silo“ (wobei die Fernsehserie erst nach dem Buch erschienen ist). Keine Ahnung, ob Maja Ilisch da ein paar Anleihen entnommen hat …


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