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Buchbesprechung: Juliane Pickel „Rattensommer“

Cover: Juliane Pickel „Rattensommer“Lesealter 14+(Beltz & Gelberg 2023, 252 Seiten)

Mit dem Manuskript von „Krummer Hund“ hat Juliane Pickel 2021 mit dem Gewinn des Peter-Härtling-Preises das erste Mal auf sich aufmerksam gemacht. Im Jahr 2022 folgte für die Autorin das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium. Es lief also gut an. Und dieses Jahr ist dann „Rattensommer“, Juliane Pickels zweiter Jugendroman, erschienen. Zwar könnte man Juliane Pickel damit noch als eine Newcomerin bezeichnen, mit ihrem Geburtsjahrgang 1971 ist das aber eine Besonderheit. Die meisten Autor/inn/en schreiben ihre ersten veröffentlichten Bücher in etwas früheren Jahren – aber ich finde es gut, dass es so was gibt.

Inhalt:

Lous beste Freundin ist Sunny; zusammen verbringen sie viel Zeit in einem alten, ausgemusterten Freibad, das ihr geheimer Treffpunkt ist. Sunny hat Schlimmes erlebt: Vor drei Jahren wurde ihre Mutter von Hagen Bender, der im gleichen Ort wohnt, vor ein Auto geschubst – vorausgegangen war ein nichtiger Streit, mit dem Sunnys Mutter nicht mal etwas zu tun hatte. Sunny ist seitdem Waise, und ausgeglichen ist sie seitdem ganz und gar nicht, sondern treibt recht ziellos durchs Leben..

Als Lou mitbekommt, dass Hagen Bender vorzeitig aus dem Gefängnis kommt – wohl wegen guter Führung –, will sie das Sunny schonend beibringen. Doch jedes Mal, wenn sie ansetzt, geschieht etwas, was es unmöglich macht, dass Lou davon erzählt. Doch irgendwann bekommt Sunny mit, dass der „Mörder“ ihrer Mutter wieder auf freiem Fuß ist, und ihr gebunkerter Hass kommt heraus. Sie will es Hagen Bender heimzahlen und sich rächen; Lou soll sie dabei unterstützen … Lou hat dabei kein gutes Gefühl, will aber auch ihre Freundin nicht im Stich lassen.

Die neue Situation verändert etwas in beider Freundschaft. Lou hat schon vorher bemerkt, dass sie in Sunny verliebt ist, was diese auch zu erwidern scheint. Doch die Sache mit Hagen Bender treibt einen größer werdenden Keil zwischen beide. Am schlimmsten findet Lou, dass Sunny sich immer öfter mit Tayo trifft – angeblich, weil er in Hagen Benders Haus arbeitet und so dort spionieren kann. Doch dann knutscht Sunny auch noch mit Tayo rum, was Lou total trifft. Wie alles weitergehen soll, ist unklar …

Bewertung:

Schon wenn man den Inhalt zusammenfasst, merkt man, dass Juliane Pickels Rattensommer ein Roman ist, der es in sich hat. Wie bei „Krummer Hund“ sind viele der Figuren nicht mit sich und der Welt im Reinen, treten unausgeglichen auf, ihr Leben ist in Schieflage; das trifft ganz besonders auf Sunny zu, die nach dem Tod ihrer Mutter im Leben schwimmt. Sie schwänzt ständig Schule, sie raucht, sie kümmert sich nicht um sich selbst, wenn sie eine eiternde Wunde hat; und sie spielt irgendwie auch mit den Menschen.

Auf Lou, die Ich-Erzählerin im Roman, übt Sunny einerseits eine große Faszination aus und sie fühlt sich zu ihr hingezogen; andererseits ist Lou überfordert, wenn Sunny ihre ganzen Widersprüche auslebt und sich das nimmt, was sie braucht. Als Leser/in kann man sehr gut mit Lou mitfühlen, die zunehmend auch nicht mehr weiß, was sie von Sunny, deren Zielen und Lebensausrichtung halten soll. Juliane Pickel schafft es sehr gut, beider Innenleben darzustellen; man kommt als Leser/in vor allem Lou sehr nah, spürt, wie sie wegen Sunnys widersprüchlichem Verhalten leidet, man behält aber trotzdem auch eine gewisse Distanz.

Der Plot lebt davon, dass Sunny an Hagen Bender Rache nehmen will; Sunny findet, dass er nicht weiterleben darf, weil er seine Mutter getötet hat. Man gewinnt schnell den Eindruck, dass Sunny das durchaus ernst meint – endgültig klar wird einem das, als Sunny Hagen Benders geliebte Katze als ersten großen Racheschritt entführt. Es ist ihr auch egal, wie es der Katze geht, Hauptsache Hagen Bender leidet – und was Sunny dann mit der Katze macht, zeigt, dass sie alles andere als mitfühlend ist. Sympathisch kommt Sunny – nicht nur an dieser Stelle im Buch – nicht gerade rüber. Juliane Pickel scheint, widersprüchliche Personen zu mögen – schon „Krummer Hund“ hatte Figuren, die durchaus nett sein können, aber auch ganz andere Seiten haben.

Was „Rattensommer“ angeht, so beschränkt sich der Roman nicht nur auf die Handlung, sondern ist auch darüber hinaus in vielem durchkomponiert. Als Leitmotiv zieht sich zum Beispiel das Wasser bzw. der See durch den Roman. Lou traut sich nicht schwimmen, hat panische Angst vor den Tiefen des Wassers, während Sunny sich da in ihrem Element fühlt. Das Wasser spielt auch am Ende beim großen Finale, wenn sich alles zuspitzt, eine wichtige Rolle. Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Totgeburt von Lous Schwester. Gerade weil die Geburt des Sternenkinds genau ein Jahr vor Lous Geburtstag war, entfaltet der Verlust in Lous Familie auf meist unbewusster Ebene eine tragische Wirkung. Hier wird auch eine Brücke zwischen Lou und Sunny geschlagen, die beide ein Familienmitglied verloren haben.

Unterteilt ist „Rattensommer“ in viele kurze Kapitel, mit Schlaglicht-Überschriften wie „Traurig“ oder „Haussegen“, manchmal auch mit kurzen Sätzen überschrieben. Manche der Kapitel bestehen nur aus zwei oder drei Seiten; und an manchen Stellen habe ich mich gefragt, warum ein neues Kapitel beginnt, wo doch die Handlung direkt weitergeht. Aber letztendlich stört das nicht weiter. Was dem Buch aber meiner Meinung nach gut getan hätte, wären 50 Seiten weniger gewesen. Es gibt ein paar Stellen (gerade in der Mitte des Romans), wo sich einfach etwas wenig tut, wo man ein bisschen das Gefühl hat, die Geschichte steckt kurz fest.

Mutig fand und finde ich das offene Ende des Romans. Als Leser/in fragt man sich, auf der Zielgerade angekommen, wie die Story enden mag, und ich hatte eine wohlgefällige und eine mutige Variante, die vielen Leser/innen vielleicht nicht hätte schmecken mögen, im Kopf. Juliane Pickel lässt sich aber nicht beirren und zieht sich geschickt aus der Affäre: Am Ende bleibt eine entscheidende Frage offen, was manche/n Leser/in enttäuschen mag, ich aber in Ordnung fand.

Fazit:

4-einhalb von 5 Punkten. „Rattensommer“, Juliane Pickels zweiter Jugendroman, ist wieder ein Buch mit sperrigen Figuren, mit einer eigenwilligen Geschichte, die damit punktet, dass man mit den Figuren mitfiebert. Man steigt in die Welt von Lou und Sunny mit dem ganzen Auf und Ab ein, lässt sich davon berühren. Das Buch kennt einige Geheimnisse, die aber nicht aufgedeckt werden. Warum hat Lou so Angst vor dem Wasser? Warum ist Hagen Bender ein so jähzorniger Mensch? Die Fragen bleiben unbeantwortet, ja, sie werden nicht mal gestellt. Nur bei Sunny weiß man, warum sie so eine schwierige Person ist.

Juliane Pickels Roman steht in der Tradition von ihrem Debüt „Krummer Hund“; das Buch hat wie die Figuren darin etwas Düsteres, das wie die dunklen Tiefen im See unter dem gesamten Alltagsleben liegt und zu lauern scheint. Beziehungen sind kompliziert – ob zwischen Lou und Sunny oder zwischen Lous Eltern. Ein Wohlfühlbuch hält man da nicht in den Händen; aber auch nichts, was man nicht jugendlichen Leser/inne/n ab 14 Jahren zumuten kann. Wohlig einnisten kann man sich in dem Buch jedenfalls nicht. Aber genau das macht Juliane Pickel zu einer spannenden Autorin, bei der man neugierig sein darf, was noch folgen mag.

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(Ulf Cronenberg, 01.11.2023)


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