Es ist immer ein spannender Moment, wenn man die Halle des Congress Centers der Frankfurter Messe betritt, weil man sich fragt, wie die Bühne aussieht: Grün und Orange, noch ein bisschen Gelb waren die Leitfarben, mit denen man in diesem Jahr am 20.10.2023 bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises empfangen wurde. Gewagt, fast dissonant war diese Farbkombination. Die bunt beleuchteten ausgestanzten Quader, die immer ein bisschen an Emmentaler erinnern, kennt man ja schon aus den vergangenen Jahren – das war nicht neu. Später wechselten sie – man sieht das auf den Fotos – immer wieder die Farben.
Als die Moderatorin Vivian Perkovic die Bühne betrat (braune Hose, orange Bluse) und die ersten Sätze ins Mikrofon sprach, wirkte sie seltsam unmotiviert, sprach mit leicht brüchiger Stimme, verhaspelte sich ein paar Mal leicht – nach ein paar Minuten war das allerdings vorbei.
Begrüßt wurden die Zuschauer/innen danach von Ralf Schweikart, dem Vorsitzenden des Arbeitskreis für Jugendliteratur, dessen Amtszeit demnächst endet. Mit einer engagierten Rede, die stark politisch gehalten war, den Bogen vom Terror der Hamas über den Ukraine-Krieg schlug, um dann bei den geplanten Bildungs- und Kultureinsparungen im Bundeshaushalt ihren Schwerpunkt zu finden, sammelte er an dem Abend mit am meisten Sympathiepunkte. Ich werde Ralf Schweikart als engagierten Grußwort-Redner, der immer auch auf die Gesellschaft schaut, jedenfalls vermissen.
Die Schulbildungspolitik verglich er mit einer in Flammen stehenden Schule, die jedoch nicht gleich von Profis in einem großen Feuerwehreinsatz gelöscht wird, sondern wo 16 Menschen „unterschiedlicher Begabung“ erst mal die Lage einschätzen, was zu tun ist: „Da löschen wir mal gar nicht, solange das Lehrerzimmer nicht brennt!“, „Wenn der Wind so steht, geht das Feuer von ganz alleine aus“, führte Ralf Schweikart die imaginierten Lösungsideen aus und fuhr damit fort, dass ein Dritter versuche, seinen Gardena-Gartenschlauch an den Hydranten anzuschließen, um das Feuer zu löschen … Was für ein unwiderstehlich deutliches Bild für die unterfinanzierte Bildungspolitik, das sich bei den Zuhörer/inne/n ins Gedächtnis brannte. (Den kleinen Ausrutscher von Ralf Schweikart, dass alle Menschen ja „Monat für Monat inflationsbedingt 6 bis 7 % mehr bezahlen“ müssten, der so formuliert nicht korrekt ist, lassen wir mal außer Acht.)
Neben Jürgen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, und Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, war dann Lisa Paus (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) – diesmal anders als letztes Jahr nicht beherzt mit der Kleidfarbe die Parteizugehörigkeit preisgebend – an der Reihe. Man erfuhr, dass in der Bibliothek des Familienministeriums alle Preisbücher aus bald 70 Jahren Deutscher Jugendliteraturpreis zu finden sind; und eines – „Das Rad auf der Schule“ von Meindert de Jong, Preisbuch aus dem Jahr 1957 – hatte sie dabei. Darin kämpfen Jugendliche dafür, ein Storchenpaar wieder ins Dorf zu holen – ein Thema, das ihr, so meinte Lisa Paus, als Grünenpolitikerin natürlich gefalle … Lisa Paus war jedenfalls die meistgenannte Adressatin an dem Abend: Viele der Sprechenden hatten Wünsche an die Familienministerin, die sie mit sympathischem Lachen aufnahm und nicht als Affront verstand. Ob Lisa Paus dann am Ende ihres Grußwortes allerdings unbedingt noch die eigenen politischen Erfolge (vor allem die Kindergrundsicherung) herausstellen und damit Eigenwerbung platzieren hatte müssen, das kann man sich fragen.
Den Anfang bei der Preisverleihung machte auch diesmal die Sparte Bilderbuch. Bei der Vorstellung der nominierten Bücher wurde schnell klar, dass die Präsentation auf der Projektionsleinwand noch mal perfektioniert worden war. Die Bücher wurden wie immer von einer Stimme aus dem Off vorgestellt, es wurden Cover und Seiten aus dem Buch gezeigt – aber erstmals animiert: Seiten wurden umgeblättert, es wurde rein- und rausgezoomt, Seiten wurden von oben nach unten abgefahren. Das sah gut und lebendig aus, wirkte später bei den Jugendbüchern, wenn nur Text zu sehen war, manchmal aber etwas verkrampft.
Problematisch fand ich jedoch, wie diese Sprechtexte verfasst waren. Klar, man muss die Besonderheiten der Bücher pointiert herausstellen, aber ob das bei einer Preisverleihung für Kinder- und Jugendbücher dermaßen im Wissenschafts- und Germanistenjargon sein muss, sollte hinterfragt werden. Ein Beispiel: „‚Schneelöwe‘ entfaltet die poetisch-metaphorische Idee des inneren Wesens. So wie dem kindlichen Ich-Erzähler der Schneelöwe zur Projektionsfläche des Selbst wird, spricht er auch anderen Menschen innere Tiere zu.“ Alles klar? Kinder oder Jugendliche verstehen da wohl wenig bis gar nichts und steigen – das ist zu befürchten – aus. Man mag entgegnen, dass das Publikum, abgesehen von den Mitgliedern der Jugendjury, vor allem aus einem Fachpublikum bestand. Dennoch: Lesefördernde Veranstaltungen, die auch Kinder und Jugendliche mit einbeziehen, kann und sollte man in diesem Punkt anders gestalten.
Die Preisbücher in den einzelnen Sparten
Den Preis für das beste Bilderbuch bekam in diesem Jahr Benjamin Gottwald (Text und Illustration) für „Spinne spielt Klavier. Geräusche zum Mitmachen“ (Carlsen-Verlag; ab 3 Jahren). Mit vielen Bildern und wenig Text fordert das Buch auf kreative Weise dazu auf, sich mit Geräuschen zu beschäftigen und selbst Töne zu produzieren. Völlig überrascht stand Benjamin Gottwald auf der Bühne und fand erst mal kaum Worte, was im Laufe des Abends vielen der Ausgezeichneten genauso ging.
Mit dem Kinderbuch ging es weiter; das Preisbuch heißt „Boris, Babette und lauter Skelette“ (Kibitz-Verlag; ab 8 Jahren), Text und Illustrationen stammen von Tanja Esch. Prämiert wurde da ein knallig bunter Comic über ein höchst eigenwilliges Haustier mit eigenen Vorlieben (z. B. dem Sich-Gruseln), um das Boris sich aufopferungsvoll kümmert. Eine schwierige Angelegenheit, weil die Eltern davon nichts mitbekommen dürfen.
Es folgte die Prämierung in der Sparte Jugendbuch, und ausgezeichnet wurde Chantal-Fleur Sandjons Buch „Die Sonne, so strahlend und Schwarz“ (Thienemann-Verlag; ab 14 Jahren). Der an vielen Stellen experimentell und kreativ gesetzte Versroman handelt von Nova, die nach der Trennung der Mutter vom gewalttätigen Stiefvater in einer neuen Umgebung nach und nach aufblüht und ihre Verletzungen zu überwinden versucht. Auch Chantal-Fleur Sandjon war auf der Bühne erst mal sprachlos, freute sich aber sichtlich überwältigt über die Auszeichnung.
Laute Juchzer füllten das Congress Center, als das prämierte Sachbuch bekannt gegeben worden war. Kathrin Köller (Text) und Irmela Schautz (Illustration) konnten es kaum fassen, dass ihr Buch „Queergestreift. Alles über LGBTIQA+“ (Hanser-Verlag, ab 11 Jahren) ausgewählt worden war. Die Illustratorin hatte am Ende eine Botschaft an alle Zuhörenden und Zuschauenden: Man müsse nicht alles in Bezug auf LCBTIQA+ verstehen, aber man solle Respekt haben; und gemeint war damit vor allem, dass man Betroffenen gegenüber mit Respekt auftritt.
Auf der Bühne begründete anschließend die neue Vorsitzende der Kritikerjury Prof. Dr. Iris Kruse eindrücklich mit weit ausholenden Gesten die Auswahl der Bücher, die der Kritikerjury schwer gefallen sei. Nach Gemeinsamkeiten bei den Preisbüchern gefragt, machte sie deutlich, dass alle Bücher für ein Entdecken, Wahrnehmen und Empfinden von Vielfalt stünden und dass davon ein Appell ausgehe, die Sinne und Herzen für Diversität zu öffnen. Das war gut zusammengefasst.
Es folgte die Jugendjury, die die nominierten Bücher wieder szenisch vorstellte. Das war diesmal besonders gelungen. Bunte Schwimmnudeln dienten als Bühnenelemente, mit deren Hilfe zum Bespiel Sichtfenster oder Räume angedeutet wurden. Und mit „Schwimmnudelfeuerwerk“ im Hintergrund wurde dann der Preisbuchtitel vorgelesen: „Als die Welt uns gehörte“ (Fischer KJB; ab 12 Jahren) von Liz Kessler (Text) und Eva Riekert (Übersetzung) – in diesem Jahr das einzige übersetzte Preisbuch. Von der nicht anwesenden britischen Autorin wurde eine aufgezeichnete kurze Videobotschaft eingespielt, auf der Bühne stand dann nur die Übersetzerin. Das Buch über drei Freunde, die durch die Umstände in der nationalsozialistischen Zeit auseinandergerissen wurden, beschreibt die weiteren Lebensschicksale der Jugendlichen, von denen zwei jüdisch sind, einer einen Nationalsozialisten als Vater hat. Interessant ist, dass die Jugendjury ein Buch wählte, in dem es um Flucht, Verfolgung und Überleben geht, und damit den derzeit bestimmenden weltpolitischen Themen am nächsten kam.
Die Sonderpreise
Zwei Preise standen noch aus: Den Sonderpreis für junge Talente erhielt Annika Büsing für ihr Buch „Nordstadt“ (Steidl-Verlag), einen Roman über eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, in der eine junge Erwachsene trotz Armut und Gewalt während Kindheit und Jugend den Lebensmut nicht verliert.
Mit dem Sonderpreis für das Gesamtwerk wurde schließlich Alois Prinz ausgezeichnet, der seit Jahrzehnten Biografien bekannter Persönlichkeiten für Jugendliche schreibt. In der Laudatio durch Birgit Schollmeyer, Vorsitzende der Sonderpreisjury, und im anschließenden Gespräch auf der Bühne mit Alois Prinz wurde noch mal dessen kontinuierliches Wirken beschrieben, das von Biografien über so gegensätzliche Persönlichkeiten wie Jesus und Joseph Goebbels über die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof bis hin zu Franz von Assisi reicht. Seine Worte gut abwägend erklärte Alois Prinz, was ihn an diesen Personen vor allem interessiert und weshalb er sie ausgewählt habe: dass sie sich voll und ganz einer Sache verschrieben hätten, nicht immer nur dem Guten. Auch daraus, hoffe er, würden die Leser/innen Lehren ziehen. Alois Prinz plädierte weiterhin dafür, dass wir Utopien brauchen. Dass er außerdem noch herzlich seinem Lektor Frank Griesheimer dankte, ihn sogar auf die Bühne holen ließ, war ein besonderer Moment der Preisverleihung.
Was bleibt …
Alles in allem war die Preisverleihung eine runde Sache. Die Zeremonie ist seit Jahren erwachsen geworden, man hat sie kontinuierlich verbessert, für meinen Geschmack ist sie aber inzwischen etwas zu stark ritualisiert. Lebendig wird sie durch die Personen auf der Bühne, und da standen diesmal – von Liz Kessler abgesehen – alle Ausgezeichneten, was der Veranstaltung gut tat. Das war nicht immer so.
Nach fast zwei Stunden ging es in den Vorraum zu abschließenden Gesprächen. Dass es diesmal nur Getränke, aber keine Kleinigkeit zu essen gab, war neu. Da verließen wohl einige am Ende hungrig die Preisverleihung.
(Ulf Cronenberg, 22.10.2023)
P. S.: Eine persönliche Randanmerkung sei noch angefügt: Die Kritikerjury besteht diesmal nur aus Frauen. Das mag seine Gründe haben, aber ich fände wünschenswert, dass hier auch Männer dabei sind. Klar, Mädchen lesen nachweislich mehr und öfter … Aber wie in der Politik und anderen Ämtern, wo es meist um das nicht wünschenswerte Unterrepräsentiertsein von Frauen geht, würde ich mir, wenn es um Literaturpreise geht, eine Jury mit Männerbeteiligung wünschen.
Und nun noch die Fotos von der Preisverleihung (durch Draufklicken und dann mit Pfeiltasten kann man sie in Groß durchblättern) – bitte beachtet, dass die Rechte beim Fotografen liegen, die Fotos also nicht ohne Rücksprache verwendet werden dürfen.
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