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Buchbesprechung: Eloy Moreno „Unsichtbar“

Cover: Eloy Moreno „Unsichtbar“Lesealter 14+(Sauerländer-Verlag 2023, 333 Seiten)

Jugendromane aus Spanien gibt es auf Deutsch selten zu lesen – ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir in den letzten Jahren einer untergekommen ist … Schon allein deswegen ist „Unsichtbar“ von Eloy Moreno etwas Besonderes; von dem Autor hatte ich vorher auch noch nie gehört, obwohl auf der Webseite des Sauerländer-Verlags vom spanischen Bestsellerautor die Rede ist. Da „Unsichtbar“ das erste ins Deutsche übersetzte Buch von Moreno ist, gilt das aber wohl nur für Spanien … Das Cover in dem Blau gefällt mir übrigens ausgesprochen gut – es ist ganz einfach gehalten, aber fällt einfach auf.

Ohne Angst und unversehrt den Schulweg zu bestreiten und die Schule zu besuchen – das ist der Hauptfigur in „Unsichtbar“ (Übersetzung: Ilse Layer; spanischer Originaltitel: „Invisible“) nicht vergönnt. Als Leser/in erfährt man nicht, wie der Junge heißt – ein Kunstgriff, den man ab und zu von anderen Büchern kennt. Das macht die Geschichte vielleicht ein wenig universeller, die Geschehnisse werden nicht so stark mit einer konkreten Figur verbunden … Sprachlich sind deswegen einige Verrenkungen notwendig, aber Eloy Moreno meistert das sehr geschickt.

Es geht in „Unsichtbar“ um Mobbing; der namenlose Protagonist erfährt es in allen erdenklichen Spielarten und sehr massiv. Hauptdrahtzieher ist MM, ein Junge, mit allen Wassern gewaschen, wenn es darum geht, jemanden zu schikanieren. Er weiß genau, wie man jemanden drangsaliert und dabei selbst schadlos davonkommt. Sekundiert wird er von zwei weiteren Jungen, die im Buch jedoch nur Randfiguren sind und keine wichtige Rolle außer der der Mitläufer spielen. Der gemobbte Junge weiß sich jedenfalls überhaupt nicht zu wehren, und es ist genau das, was Mobbing mit ausmacht: die ungleiche Machtverteilung zwischen Opfer und Täter(n).

Wie Eloy Moreno die Geschichte erzählt, ist ungewöhnlich. Es sind sehr kurze Kapitel (manchmal nur eine halbe Seite, ansonsten zwei bis wenige Seiten), die wie Schlaglichter Momente beleuchten. Man schaut in die Figur des namenlosen Protagonisten, schaut aber auch auf andere Figuren: Im Zentrum stehen vor allem noch MM, eine Spanisch-Lehrerin sowie Kiri, eine Freundin des Jungen, die heimlich in ihn verliebt ist – einige andere Figuren gehören noch hier und da dazu. Man folgt dem Jungen als Leser/in oft aus der Ich-Perspektive, immer wieder aber auch von außen personal erzählt; die andere Figuren werden dagegen immer nur personal ins Zentrum gerückt. Eine fast schon wilde Stilmischung ergibt sich daraus; sie funktioniert aber und hat einen ganz besonderen Reiz, weil zwischen Nähe und Distanz changiert wird.

Was „Unsichtbar“ drängend erfahrbar und damit wertvoll macht, ist, dass es alle Facetten des Mobbing schildert: den Täter, der kein Unrechtsbewusstsein hat und mit dem Mobbing sein eigenes Ego, das große Kratzer hat, aufwertet. MM kann sich das leisten, weil er weiß, dass alle anderen wegschauen, selbst die Schule mit dem Direktor, weil sein Vater ein wichtiges Fördermitglied ist. Und MM fühlt sich gut und mächtig dabei. „Unsichtbar“ zeigt auch, dass sich Mobbingopfer fast immer für das schämen, was ihnen widerfährt. Der gemobbte Junge traut sich nicht, seinen Eltern, den Lehrkräften oder seinen Freunden von dem Mobbing zu erzählen. Und damit kann alles seinen verhängnisvollen Weg gehen – kein Ausweg in Sicht.

Besonders schlimm ist – und genau das stellt Eloy Moreno in den Mittelpunkt –, dass zum Mobbing viele Menschen gehören, die das Geschehen bagatellisieren („war doch nur Spaß“), wegschauen und schon gar nicht etwas dagegen tun. Die Unsichtbarkeit, mit der der gemobbte Junge sich zu retten versucht, steht genau dafür: Er wird nicht gesehen in seinem Leid. Und seine Reaktion: Er versucht sich so unsichtbar wie möglich zu machen, weil er meint, so den Tätern entkommen zu können. Im Buch weht ein Hauch magischer Realismus, wenn der Junge meint, dass er wirklich die Fähigkeit hat, sich unsichtbar zu machen, und das auf Wespenstiche, die ihn ins Krankenhaus gebracht haben, zurückführt. Sie hätten ihm Superkräfte verliehen …

„Unsichtbar“ ist keine einfache Lektüre – es tut weh, das Mobbing so nah mitzubekommen, ohne dass es für die Täter Konsequenzen hat. Dass immerhin die Spanisch-Lehrerin aus eigener früherer Betroffenheit als Einzige nicht die Augen verschließt, etwas unternimmt, federt die Geschichte etwas ab – aber nicht so, dass das Mobbing heruntergespielt wird. Am Ende gibt es für die Hauptfigur, die so viel mitgemacht hat, Hoffnung – die Spanischlehrerin sieht den Jungen und holt ihn aus der Unsichtbarkeit. Warum ihr das so wichtig ist, erfährt man ganz am Ende, wenn man ihre schockierende Geschichte auf wenigen Seiten zusammengefasst liest. Ein glanzvoller und passender Schluss für das Buch.

Fazit:

5 von 5 Punkten. Es gibt einige gute Kinder- und Jugendbücher zum Thema Mobbing (spontan fallen mir „Opferland“ von Bettina Obrecht und „Tanz der Tiefseequalle“ von Stefanie Höfler ein). „Unsichtbar“ gehört zweifelsohne auch dazu. Sehr genau werden hier die Mechanismen von Mobbing dargestellt, fast schon analytisch seziert. Eloy Moreno nimmt sich im Fortgang der Geschichte immer wieder mal heraus, dass er die Vorgänge analysiert und dem Leser geschickt aufzeigt, wie Mobbing funktioniert. Gefallen hat mir außerdem, dass „Unsichtbar“ literarisch eigene Wege geht, weil es ungewöhnlich erzählt wird, mit den Erzählperspektiven spielt und daraus eine ganz eigensinnige Mischung aus Nähe und Distanz entsteht.

Zu lesen ist das Buch deswegen nicht unbedingt leicht – der Einstieg erfordert Leseerfahrung, und die Altersempfehlung von 14 Jahren ist deswegen gerechtfertigt. Das führt zu dem meiner Meinung nach einzigen kleinen Manko des Buchs: Die Hauptfigur kam mir immer etwas jünger als die Lesezielgruppe vor – und das schafft eventuell ein kleines Identifikationsproblem für Leser/innen. Ansonsten kann man jedoch nur den Hut ziehen vor diesem virtuosen und erhellenden Buch über Mobbing, dem ich viele Leser/innen wünsche – auf dass sie den Mut finden, die Augen nicht zu verschließen, wenn ihnen in ihrem Leben Mobbing begegnet.

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(Ulf Cronenberg, 29.08.2023)


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