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Buchbesprechung: Jacqueline Woodson „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“

Cover: Jacqueline Woodson „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“Lesealter 15+(cbj 2023, 180 Seiten)

Warum Jacqueline Woodsons Jugendroman erst 2023 auf Deutsch erschienen ist, weiß ich nicht. Das Buch ist in den USA bereits 1998 veröffentlicht worden und hatte dort wohl auch viele begeisterte Leser/innen. Für mich passt das Buch gerade gut, weil es im Hintergrund zwei Themen aufgreift, mit denen ich in den letzten Wochen konfrontiert war: Ellie ist Jüdin (eine Thema aus der letzten Buchbesprechung), allerdings ist das im Alltag kaum zu merken; und Jeremiah ist ein begnadeter Basketballer, was mich an „Swagger“ erinnert, eine Serie, die ich gerade auf Apple TV+ schaue (übrigens meiner Meinung nach empfehlenswert).

Inhalt:

Beide sind neu an der teuren Elite-Schule, der Percy in New York: Ellie soll dort genauso wie Jeremiah besser als an der alten öffentlichen Schule gefördert werden. Als Ellie mit Blick auf den Stundenplan ein Klassenzimmer sucht, rennen die beiden ineinander – Ellies Bücher, die sie in der Hand gehalten hat, fallen auf den Boden, Jeremiah hilft ihr, sie aufzuheben. Dieser eine Moment reicht, dass beide eine tiefe Verbindung zueinander spüren. Es dauert etwas, aber irgendwann kommen sie sich näher und sind ein Paar.

Doch einfach ist das alles nicht, denn Ellie ist weißhäutig und Jeremiah ein Schwarzer. Sie bekommen blöde Sprüche zu hören, werden schief von anderen angeschaut, und gerade an der Percy, auf die vor allem weiße Elite-Schüler/innen gehen, ist Jeremiah als Schwarzer ein Außenseiter. Ellie bekommt auch von unerwarteter Seite eine negative Rückmeldung. Ihre erwachsene Lieblingsschwester Anne sollte eigentlich Verständnis haben, da sie selbst mit einer Frau zusammenlebt, und trotzdem reagiert sie am Telefon seltsam, als Ellie ihr von Jeremiah erzählt.

Sowohl Ellie als auch Jeremiah scheuen sich auch, ihren Eltern von dem neuen Freund bzw. der neuen Freundin zu erzählen, obwohl diese schon vermuten, dass es da jemanden gibt. Aber sie machen sich trotzdem Sorgen, wie ihre Eltern reagieren, wenn sie mitbekommen, dass der Freund bzw. die Freundin eine andere Hautfarbe hat. Jeremiah traut sich als Erster, Ellie mit nach Hause zu nehmen – es läuft auch gut. Ellie allerdings tut sich damit deutlich schwerer, Jeremiah daheim einzuführen.

Bewertung:

Im Buch-Nachwort, das nicht 1998, sondern gut 20 Jahre später verfasst wurde, erwähnt Jacqueline Woodson, dass sie damals die Idee hatte, eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte zu schreiben. Wie zu erwarten hat das Buch mit den Familien, in denen Ellie und Jeremiah große Sorgen haben, ob ihre Beziehung gutgeheißen und unterstützt wird, eindeutig Anleihen an Shakespeares Drama; die Situation in „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ (Übersetzung: Eva Riekert; amerikanischer Originaltitel: „If you come softly“) ist allerdings deutlich weniger verfahren als bei „Romeo und Julia“, die Parallelen sind jedoch eindeutig zu erkennen.

Man kann das Buch also als tragische Liebesgeschichte lesen, und das werden sicher auch viele Leser/innen tun. Doch für mich stand bei der Lektüre des Jugendromans etwas anderes im Zentrum. Der mehr oder weniger spürbare Rassismus, der sich als Thema durch das Buch zieht. Man kann nun natürlich sagen: 1998 war es noch ungewöhnlicher als heute, dass man eine Beziehung zwischen Weißen und Schwarzen als normal ansieht – aber so ganz sicher bin ich mir nicht, ob sich da wirklich viel verändert hat. Vielleicht hat sich manches ein bisschen verschoben, aber es gibt in den USA und sicher auch in Mitteleuropa immer noch Menschen, die mehr als die Nase rümpfen, wenn sie solche Beziehungen sehen.

Was mich während des Lesens beschäftigt hat – und Jacqueline Woodson zeigt das sensibel und einfühlsam auf –, war der subtile Rassismus, den Ellie und Jeremiah erleben. Es sind kleine Blicke, die sie auf sich ziehen; es sind Gesichtsausdrücke, in die sie schauen. Aber noch schlimmer ist, dass sie sich der Reaktion der eigenen Eltern und Familien auf ihre Beziehung nicht sicher sein können. Wenn dann Anne, Ellies Schwester, am Telefon wirklich seltsam reagiert, als Ellie von Jeremiah erzählt, ahnt man, dass es hier tiefe und unausgesprochene Barrieren gibt.

Wenn Jeremiah, der meist nur Miah genannt wird, auch erzählt, dass sein Vater ihn dazu erzogen hat, nie zu rennen, stattdessen immer ruhig zu gehen, fragt man sich erst mal, was da dahintersteckt. Aber es geht darum, dass man als rennender Schwarzer immer in Verdacht steht, sich aus dem Staub machen zu wollen und damit bei Polizisten sofort zum Verdächtigen wird. Also nie rennen – das gilt für Jeremiah und spielt später im Buch noch eine wichtige Rolle (mehr sei nicht verraten).

„Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ wird zweiperspektivisch erzählt, fast durchgängig im Wechsel zwischen Ellies und Miahs Sicht. Während die Kapitel mit Ellie als Erzählerin in der Ich-Perspektive geschrieben sind, sind Miahs Parts personal in der Er-Form gehalten. Dieser Wechsel in der Erzähl-Perspektive ist eher ungewöhnlich, aber durchaus geschickt lanciert, denn so kann man vom Erzählstil her die beiden Perspektiven gut unterscheiden. Dass Jeremiahs Berichte nicht in der Ich-Form geschrieben hat, passt auch zum Verlauf der Geschichte – was sich einem aber erst gegen Ende des Buchs erschließt.

Was mir an „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ gefällt, ist der Ton, mit dem Jacqueline Woodson erzählt. Sie kreiert eine ganz eigene Mischung aus distanziertem und trotzdem einfühlsamen Erzählen. Auch der Blick auf die Erwachsenenwelt, die als brüchig, als wenig verlässlich beschrieben wird, zählt zu den Stärken des Romans. Es gibt wenige Autor/inn/en, die diese Art des Erzählens so beherrschen – ich musste da immer wieder an einige Bücher von Meg Rosoff denken, die einen ähnlichen Ton haben (wobei Jacqueline Woodsons Buch ja älter als die Romane von Meg Rosoff ist).

Fazit:

5 von 5 Punkten. Als ich erst mal die Stichwörter Liebesgeschichte und Romeo und Julia gelesen habe, war ich nur bedingt an dem Buch interessiert, doch als ich mich vorab ein bisschen weiter informiert habe, mitbekommen habe, dass Jacqueline Woodsons „Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ fast so etwas wie ein Klassiker ist, wollte ich mich doch auf das Buch einlassen. Ich habe es keine Sekunde bereut. Die Darstellung von Alltagsrassismus ist so subtil und zugleich einprägsam in die Geschichte eingearbeitet, dass mich das an mehreren Stellen betroffen gemacht hat. Darin sehe ich die Stärke dieses Jugendromans – die Romeo-und-Julia-Anklänge waren mir persönlich weniger wichtig.

Mich hat das Buch auch nachdenklich gemacht: Man mag sich nach der Lektüre fragen, wo wir in Mitteleuropäer eigentlich subtil rassistische Haltungen haben … Die Gräben verlaufen hier sicher weniger zwischen Weiß und Schwarz (allein bevölkerungsbedingt); aber Menschen aus anderen Kulturkreisen gegenüber, die hier leben, gibt es durchaus ebenso mehr oder weniger deutliche Vorbehalte.

Was mich für das Buch Jacqueline Woodsons außerdem eingenommen hat, ist dessen oben beschriebene Art des Erzählens, die mir gut gefällt. Der Jugendroman ist prägnant geschrieben – nicht zu lang, nicht zu kurz –, er ist ein packendes Leseerlebnis. Mitte September soll Band 2 mit dem Titel „Seit du gegangen bist“ folgen – und damit ist ja auch schon angedeutet (was ich bisher deutlich zu sagen vermieden habe), dass die Geschichte zwischen Ellie und Jeremiah tragisch endet. Aber das war angesichts der Anklänge an „Romeo und Julia“ eigentlich ja sowieso klar …

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(Ulf Cronenberg, 12.08.2023)

Lektüretipp für Lehrer!

„Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen“ eignet sich meiner Meinung nach sehr gut als Schullektüre in einer 10. oder 11. Klasse. Aus diesem Buch kann jeder etwas ziehen: Manche sehen darin eine Liebesgeschichte, andere denken über Rassismus nach, man kann das Buch als zeitgeschichtliches und aktuelles Statement sehen, man kann es gut in geschichtliche Projekte zu den USA einbeziehen. Für Schullektüren ist es immer auch gut, wenn man sowohl eine weibliche wie auch eine männliche Hauptfigur hat – auch das erfüllt das Buch. Und schließlich ist der Umfang des Buchs für eine Schullektüre ideal.


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