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Buchbesprechung: Susan Kreller „Hannas Regen“

Cover: Susan Kreller „Hannas Regen“Lesealter 13+(Carlsen-Verlag 2022, 190 Seiten)

Habe ich richtig gezählt und ist „Hannas Regen“ der vierte Jugendroman von Susan Kreller? Jedenfalls ist es der vierte, den ich gelesen habe und hier bespreche; kurioserweise hat sie 2015 für „Schneeriese“, den Jugendroman, der mir von den drei bisherigen am wenigsten gefallen hat, den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Aber davon abgesehen: Was ich an Susan Kreller schon immer geschätzt habe, sind ihre einfühlsamen und sprachlich sehr ausgefeilt erzählten Geschichten. Von daher war der neue Roman für mich ein Muss.

Inhalt:

Josefin ist eine sehr stille Schülerin, die von ihren Mitschüler/inne/n nicht beachtet wird, meist aber auch nicht beachtet werden will. Als Hanna, eine neue Schülerin, in die Klasse kommt, wird diese neben Josefin gesetzt, tropfnass, weil sie durch den Regen zur Schule gelaufen ist. Die Klassenlehrerin sagt noch, dass sie sich auf Josefin verlasse … Und damit beginnt eine seltsame Freundschaft, auf die sich Josefin keinen Reim machen kann.

Hanna redet nämlich so gut wie gar nichts mit ihr. Zwar gehen sie bald den Großteil des Weges gemeinsam zur Schule und wieder nach Hause, doch auch hier wird oft geschwiegen. Irgendwann fragt Josefins Mutter sie nach einem neuen Mädchen in der Klasse und berichtet, dass deren Mutter bei ihr in der Firma angefangen habe; sie sei aber eine seltsame Frau, die nichts von sich preisgebe. Das passt auch gut zu Hanna, und so erfindet Josefins Mutter eine unglaubliche Geschichte: Sie glaubt, dass die Familie Teil eines Zeugenschutzprogramms sei, also eigentlich eine andere Identität habe und deswegen niemanden an sich ranlasse.

Hanna bemerkt durchaus weitere Dinge, die zu dieser Theorie passen. Und sie spürt zugleich ab und zu, dass Hanna eine Sehnsucht nach Nähe hat, die sie Josefin gegenüber aber nie so richtig, wenn dann nur versteckt zeigt. Als sie und Hanna einmal ihre Großmutter besuchen, diese Hanna nach ihren Eltern fragt, kippt die Stimmung und Hanna beginnt zu weinen. So Ähnliches passiert auch weitere Male, und Josefin weiß nicht, was sie davon halten soll.

Bewertung:

Was Susan Kreller da erzählt, ist eine ganz besondere Geschichte. Ein schüchternes Mädchen und ein Mädchen, das nichts von sich zeigen will bzw. darf, sind die Hauptfiguren, die umeinander kreisen; ein paar weitere Figuren tauchen auf: vor allem Josefins Familie (neben den Eltern und der Großmutter noch ihr Bruder Carlo) sowie nur ganz kurz Hannas Eltern. Damit sind aber auch schon fast alle wichtigen Figuren benannt.

Man ahnt schon bald, dass Hanna wirklich in Not ist, aber was genau los ist, da tappt man genauso wie Josefin eigentlich das ganze Buch im Dunkeln. Dass das mit dem Zeugenschutzprogramm nicht sein kann, ahnt man; die Fährte wäre zu offensichtlich gelegt. Es passiert wirklich erst auf den letzten 20 Seiten, dass man eine Erklärung für Hannas Verhalten bekommt. Der Geschichte wohnt jedenfalls – so viel kann man verraten – eine gehörige Portion Tragik inne.

Was mir an „Hannas Regen“ – wie schon an den früheren Büchern von Susan Kreller – gefällt, ist der Sprachstil. Wortgewandt, immer wieder mit ungewöhnlichen Metaphern und Vergleichen wird das Seelenleben der Figuren geschildert, und das führt dazu, dass man den Eindruck hat, sehr tief in die das Seelenleben der Hauptfigur Josefin zu schauen. Josefin als Erzählerin beschreibt außerdem sehr genau, was um sie herum passiert. Drei meiner Lieblingssätze bzw. -formulierungen aus dem Buch, über die ich gestolpert bin, lauten: „Ihr [Hannas] Kinn ist zur Faust geballt […]“ (S. 27) und „Es reicht langsam, ich merke, wie mein Herz zuwächst, da kommt nichts mehr durch, nichts und niemand.“ (S 74) – und weiter geht es ein paar Sätze später: „Ich müsste jetzt eigentlich gehen, Richtung Toilette oder Richtung Kanada, egal, Hauptsache, weg aus diesem fürchterlichen Gespräch. Ich verpasse aber meinen Einsatz, die Toilette und Kanada müssen ohne mich auskommen, auch wenn es schwer ist.“ (S. 74f) Das ist so kreativ-gewandt, so intensiv ausgedrückt, dass ich nur staunen kann …

Darüber hinaus lebt das Buch von den liebenswert-skurrilen Figuren. Da ist Josefins Oma zu nennen, die nicht nur in einem moderneren Haus als Josefins Familie wohnt, sondern überhaupt eine moderne Frau ist. Da gibt es Josefins Mutter, die die Familie mit Länderkochwochen zu verwöhnen versucht (ein kleiner landeskundlicher Vortrag zu Beginn der Woche ist Pflicht), aber mit den ungewöhnlichen Gerichten eher nervt – Josefins Bruder Carlos legt sich oft schon einen Pizzaservice-Flyer neben den Teller. Und da fällt einem auch Josefins Vater ein, Lehrer von Beruf. Der Vater liebt sein Festnetztelefon, besteht darauf, dass die Familie es weiterhin benutzt, und wenn es klingelt, meldet er sich jedes Mal mit anderer Identität: „Metzgerei »Schinken macht Freude«, was kann ich für Sie tun?“, spricht er dann zum Beispiel ins Telefon. Dass der am Telefon in andere Identitäten schlüpfende Vater bestens mit Hanna auskommt, könnte man fast sachlogisch nennen.

Apropos Lehrer: Sie gehören in vielen Jugendromanen ja nicht unbedingt zu den Figuren, die hoch im Kurs stehen – Lehrer quälen nicht selten ihre Schüler/innen, sind pädagogisch unterbelichtet und wissen auch nicht, warum sie diesen Job eigentlich machen. Es ist jedenfalls angenehm, wenn in „Hannas Regen“ mal eine Lehrerin vorkommt, die sich Josefin und Hanna gegenüber fair und einfühlsam verhält, auch wenn sie im Unterricht manchmal nervt.

Bleibt Hanna selbst als Figur, die mit vielen Ecken und Kanten beschrieben wird. Dass das Mädchen ein Problem hat, dass das einiges mit ihren Eltern zu tun hat, bekommt man mit. Aber ansonsten verschleiert das Buch sehr geschickt, was wirklich mit ihr los sein könnte, liefert damit keine Fährte, was bei Hanna und ihrer Familie eigentlich im Argen ist. Eine rätselhafte, wundersame Figur ist dieses Mädchen, das dem Buch nicht nur den Titel gibt, sondern auch das Geheimnis liefert, das den Plot ausmacht.

Fazit:

5 von 5 Punkten. „Hannas Regen“ hat mich auf eine ungewöhnliche Art und Weise gepackt und fasziniert, und das Buch bietet eine gut austarierte Mischung aus ganz verschiedenen Elementen. Die Spannung resultiert daraus, dass man wissen will, warum Hanna sich so seltsam verhält. Doch genauso spannend ist das, was zwischen Josefin und Hanna, aber auch zwischen den anderen Figuren passiert. Was geschieht, ist für die Erzählerin Josefin eine Achterbahnfahrt, die das Mädchen immer wieder überfordert und an ihre Grenzen bringt. Das alles erlebt man als Leser/in intensiv mit.

Wie das alles – inklusive wiederkehrender Motive, allem voran dem Regen – zu einer Gesamtgeschichte geformt wurde, finde ich bewundernswert. Susan Kreller ist außerdem eine herausragende Fabuliererin, die ihre Sprachgewandtheit zu nutzen weiß, um den Figuren im Buch ganz nah zu kommen.

Dass beim Carlsen-Verlag das Buch ab 12 Jahren empfohlen wird, scheint mir ein bisschen fragwürdig – die Geschichte kann man sicher auch in diesem Alter lesen, aber ich vermute, dass man manche Perlen in dem Buch erst mit 13 oder 14 Jahren fassen können wird. Eins ist für mich nach diesem Buch jedenfalls klar: Susan Kreller gehört für mich zu den wenigen deutschen Autorinnen, von denen ich jedes neue Buch lesen werde.

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(Ulf Cronenberg, 13.11.2022)


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