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Buchbesprechung: Christian Duda „Baumschläfer“

Cover: Christian Duda „Baumschläfer“Lesealter 15+(Beltz & Gelberg 2022, 195 Seiten)

Christian Duda kennenzulernen, ist eine bleibende Erfahrung – auf der Frankfurter Buchmesse habe ich ihn erlebt, als er mit einem Leseclub über seine Arbeit als Autor gesprochen hat. Da saß jemand, der ein ungewöhnliches Leben geführt hat, der seine Sichtweise klar ausdrücken kann, aber trotz pointierter Meinungen über vieles nachdenkt; der selbstbewusst ist, aber immer auch auf der Seite von Menschen, denen es nicht gut geht. „Baumschläfer“ passt dazu; es ist – um das vorwegzunehmen – kein einfach zu lesendes, ein herausforderndes Buch …

Inhalt:

Der 14-jährige Marius lebt in einer extremen Familiensituation: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter nach einem Schlaganfall beeinträchtigt. Seine 12 Jahre alte Schwester Esther hat einen erwachsenen Freund und lässt sich vom Vater absolut nichts gefallen. Sie gibt ihm ordentlich Kontra. Marius steht irgendwo zwischendrin – er versucht sich um seine Mutter zu kümmern, hätte aber am liebsten, dass die Familie normal ist.

Als die Mutter es nicht mehr aushält, wirft sie den Vater raus. Doch der will das nicht akzeptieren, immer wieder kommt er zurück, und als er einmal mehr vor der Tür steht, ist es Marius, der seine Mutter davon überzeugt, den Vater reinzulassen. Doch der rastet aus, geht mit einem Messer auf seine Frau los und sticht auf sie ein. Als Marius sich schützend vor seine Mutter wirft, wird auch er schwer verletzt. Gerade noch kann er sich in ein Versicherungsbüro auf der gegenüberliegenden Straßenseite retten, um Hilfe zu holen, bevor er bewusstlos wird. Der Vater wird von den eintreffenden Polizisten angeschossen und festgenommen. Seine Frau hat er mit dem Messerangriff getötet.

Die körperliche Genesung von Marius dauert lange, als er das Krankenhaus verlässt, gibt es seine Familie nicht mehr. Und so greift das Jugendamt nach ihm. Schlimm für ihn ist, dass er auch im Prozess gegen seinen Vater aussagen soll. Er landet in einer Wohngruppe und soll von Sozialarbeitern betreut werden. Doch dort kommt er nicht zurecht, lehnt alle Hilfsangebote ab und zieht sich vollkommen zurück. Schließlich haut er ab, landet er auf der Straße und rutscht immer mehr in Armut, Einsamkeit und psychische Not ab.

Bewertung:

Das, was Marius in dem Buch passiert, hat einen realen Hintergrund. Wie Christian Duda im Nachwort schreibt, wurden im Jahr 2017 in überregionalen Medien mehrere Berichte (siehe Links an Ende der Buchbesprechung) veröffentlicht, deren Ausgangspunkt ein Familiendrama in Mönchengladbach-Rheindahlen aus dem Jahr 2014 war. Anlass für die Berichte war, dass ein Junge namens Mark im Frühjahr 2017 tot in einem Baum aufgefunden worden. Als Christian Duda davon gelesen hat, wusste er, dass er ein Buch über den Jungen schreiben wolle. Dessen Namen hat der Autor geändert, die Grundzüge des Familiendramas beibehalten, aber dann einiges, was sonst passiert, ausgeschmückt und ausgestaltet.

Wenn man das alles vor Augen hat, kann man sich vorstellen, dass „Baumschläfer“ absolut kein Wohlfühlbuch ist. Man muss als Leser/in viel aushalten, auch wenn die Mordtat des Vaters nicht direkt beschrieben wird. Sie wird jedoch immer wieder thematisiert, insbesondere wenn Marius in der Gerichtsverhandlung gegen seinen Vater (im Nebenraum sitzend per Video zugeschaltet) verhört wird.

Der Roman kennt zwei Ebenen, die ineinandergreifen. In normaler Schrift wird berichtet, was nach und nach passiert, beginnend mit der Szene als Mario blutüberströmt in das Versicherungsbüro gegenüber flüchtet, später verhört wird, in ein Heim kommt, abhaut, schließlich auf der Straße lebt. Die Erzählweise ist einerseits im Stil sachlich gehalten, nie ausschmückend, andererseits aber fast atemlos; kurze Sätze sind oft wie im Stakkato aneinandergereiht.

Eingestreut in das äußere Geschehen (vor allem gegen Ende auch in längeren Abschnitten) findet man fettgedruckt den Gedankenstrom von Marius. Diese Gedanken sind unzensiert, in ihnen kommentiert Marius, was er zu dem, was gerade passiert, denkt. Das sind Gedankenfetzen, unvollständige Sätze, Ein- oder Zweiwort-Anmerkungen. Diese Gedanken-Einstreuungen führen dazu, dass kein richtiger Lesefluss entsteht. Aber der wäre dem Thema auch nicht angemessen.

Was das Buch deutlich macht, ist, dass Marius letztendlich nach dem, was er erleben musste, keine Chance hatte. Nichts kann ihm helfen, die Unterstützung von Jugendamt, Sozialarbeitern laufen ins Leere, sie können den traumatisierten Jungen nicht auf einen guten Weg bringen – allerdings auch, weil sie sich oft ungeschickt verhalten, nicht spüren, was Marius bräuchte.

Ich weiß nicht, ob ich jenseits von Georg Büchners „Woyzeck“ jemals so gnadenlos beschrieben gelesen habe, wie ein traumatisierter Mensch herumgeschubst wird. Marius quartiert sich später in einen großen Karton zwischen Mülltonnen eines Wohnhauses ein – dort erfährt er von einigen Anwohnern ab und zu Gutes, aber er wird auch angeschrien, niedergemacht, ihm wird seine Existenzberechtigung abgesprochen. Manchmal sind es auch die Kleinigkeiten in der Beschreibung, die einem beim Lesen wehtun: zum Beispiel wenn Marius seine Schuhe auszieht und die völlig zerschundenen Füße eines Obdachlosen beschrieben werden.

Was man als Leser/in sehr eindrücklich vor Augen geführt bekommt, ist, wie Marius zunehmend psychische Probleme bekommt – hier ist Christian Duda ein guter Beobachter: Marius findet nicht mehr die passenden Wörter, zieht sich zurück, er traut sich nicht mehr, mit anderen zu sprechen, er verstummt. Seine Gedanken werden zunehmend wirr, sind ungeordnet, gehen durcheinander.

Man könnte „Baumschläfer“ als Anklageschrift gegen Jugendämter und unsere sozialen Sicherungsnetze lesen. Aber eigentlich greift der Roman viel tiefer und stellt viele für unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen nicht gerade angenehme Fragen: Unter welch schlimmen Umständen wachsen manche Jugendliche in Deutschland eigentlich auf? Warum wird ihnen nicht geholfen? Wie gehen wir mit traumatisierten und abgestürzten Menschen um? Antworten auf diese und andere Fragen gibt das Buch nicht – das ist aber auch gut so, denn einfache Antworten sind da nicht zu haben. Es ist jeder selbst gefordert, Schlüsse zu ziehen …

Fazit:

5 von 5 Punkten. Ich finde es nicht einfach, über „Baumschläfer“ eine Buchbesprechung zu schreiben, denn das Buch hat mich erst mal sprachlos gemacht. Doch zugleich hat Christian Duda ein Buch geschrieben, das unbequem ist, einen schockiert, wenn man sich darauf einlässt – und das hat wohl auch damit zu tun, dass hinter dem Buch eine reale Geschichte von einem traumatisierten Jungen steht, der nie mehr auf eine gute Bahn kommt. Ein „Das ist ja nur ein Buch, so schlimm ist es doch gar nicht“ funktioniert da nicht.

Bewundernswert ist, wie stringent, wie entschlossen und energisch Christian Duda Marius‘ Geschichte erzählt. Da gibt es kein Fünkchen Rührseligkeit; es kommen zwar ein paar wohlwollende, gutmeinende, auch sympathische Menschen vor, aber alles in allem spürt man an keiner Stelle so etwas wie Hoffnung, dass Marius‘ Leben eine positive Wendung nehmen könnte. Da muss man beim Lesen einiges aushalten.

Weil vor 10 Tagen die Preisverleihung für den Deutschen Jugendliteraturpreis stattgefunden hat: Ich bin mal sehr gespannt, ob sich das Buch im März 2023 auf der Nominierungsliste finden wird. Aus meiner Sicht kommt man an „Baumschläfer“ nicht vorbei – das Buch ist einfach zu kompromisslos und gewagt. Wir werden sehen, ob ich recht behalte …

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(Ulf Cronenberg, 01.11.2022)

P. S.: Sowohl Kritiker- als auch Jugendjury haben das Buch nicht für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Tja, da hatte ich wohl den falschen Riecher.

Berichte über das Familiendrama aus dem Buch:
SZ online (nicht frei zugänglich): ausführlicher Bericht | Rheinische Post online: Zusammenfassung einer Pressekonferenz der Polizei | Westdeutschen Zeitung: Nachrichtenartikel

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