Vorletztes Jahr ganz online. Letztes Jahr live in Sparbesetzung – es waren nur die nominierten Verlage und Autor/innen, wenige handverlesene Gäste geladen. Gestern, am 21. Oktober 2022 wurde der Deutsche Jugendliteraturpreis jedoch wieder vor (fast) vollem Haus im Congress Center der Frankfurter Messe verliehen – ein paar Stühle blieben leer, wohl angesichts aktueller Erkrankungen. Wie würde es nach zwei Jahren Pause mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis weitergehen? Gab es einen Relaunch? Nein, das kann man nicht sagen; aber es wurden doch ein paar Punkte verbessert.
Die sichtbaren Begebenheiten waren größtenteils beim Alten: Moderatorin Vivian Perkovic führte durch die Veranstaltung, die Bühne war im Wesentlichen ähnlich wie zuvor gestaltet, die Briefumschläge, die die Namen der Preisträger/innen enthielten, wurden von drei Kindern, ausgezeichneten Literanauten, auf die Bühne gebracht. Neu war dagegen Ministerin Lisa Paus, noch relativ kurz im Amt. Coronakonform gab es auch kein stretchlimousinenähnliches Sofa für alle prämierten Gäste, das im Laufe der Veranstaltung sonst gefüllt worden war. Stattdessen waren zwei Kleinsofas für die Gäste und ein Sessel für die Moderatorin auf die Bühne gestellt worden.
Viel getan hat sich also auf den ersten Blick nicht. Aber alles in allem war die Preisverleihung etwas runder als in den Jahren vor der Pandemie – man hatte doch an ein paar kleineren Schrauben gedreht. Die wichtigste Veränderung betraf die Präsentation der nominierten Bücher. Sie wurden kurz von einer Stimme im Off zusammengefasst, ein paar Seiten (gerade bei den Bilder- und Sachbüchern interessant) wurden auf der Leinwand präsentiert. Damit bekam man eine Ahnung von den nominierten Büchern, und das war gut so.
Vivian Perkovic war erneut gut in Form. Man spürte, dass sie vorbereitet war, die prämierten Bücher kannte, kluge Fragen stellte. Nur die Ministerin wurde manchmal mit etwas seltsamen Fragen bedacht: Was denn die Politik dafür mache, dass Kinder in den Städten mehr Freiraum zum Spielen hätten? Ja, was soll man da sagen? Dementsprechend belanglos fiel auf diese Frage auch die Antwort von Lisa Paus aus. Bei einer anderen Frage zum Thema Mobbing machte Lisa Paus – parteibuchkonform in grünem Kleid – gleich ein bisschen Werbung für ein Projekt ihres Ministeriums: die Respekt Coaches an Schulen (ich würde „Respekt-Coaches“ ja mit Bindestrich schreiben) – noch von Vorvorgängerin Franziska Giffey ins Leben gerufen … Aus meiner Sicht hätte man sich diese politischen Fragen an die Ministerin sparen können – sie waren zu flach.
Die Ministerin selbst war einerseits locker, andererseits zeigte sie sich aber nicht wirklich von ihrer persönlichen Seite. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie eher wenig Bezug zur Kinder- und Jugendliteratur hatte – man mag es manchmal abgeschmackt finden, wenn die Politiker/innen und Grußwortvortragenden von ihren Jugendleseerfahrungen (Stichworte: Taschenlampe und Bettdecke) erzählen und nicht von der Bühne gehen, ohne mindestens Astrid Lindgren erwähnt zu haben; aber bei Lisa Paus kam gar keine Resonanz zur Kinder- und Jugendliteratur. Man muss allerdings, um Bundesfamilienministerin zu werden, natürlich auch keine jugendliche Leseratte gewesen sein.
Das bestimmende Thema, ohne dass es massiv in den Vordergrund gerückt wurde, sondern eher im Hintergrund präsent war, war letztendlich der Ukraine-Krieg. In den diesmal eher belanglosen Grußworten wurde darauf mehr oder weniger Bezug genommen, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch die Wahl einiger Preisbücher vom aktuellen Kriegsgeschehen mit beeinflusst worden war. Ja, auch der Deutsche Jugendliteraturpreis spiegelt aktuelle Gesellschafts- und Politikthemen wider.
Zunächst wurde das prämierte Bilderbuch vorgestellt: Die Wahl der neunköpfigen Kritikerjury war auf Emma Adbåges „Unsere Grube“ (Verlag Beltz & Gelberg; Übersetzung aus dem Schwedischen: Friederike Buchinger) gefallen. Leider waren weder Autorin noch Übersetzerin anwesend, so dass Verlegerin Barbara Gelberg den Preis entgegennahm. Das Buch ist ein Plädoyer für die Selbstbestimmung und gegen das Überbehüten von Kindern, es will zeigen, dass Kinder Freiheiten und eigene Spielräume brauchen, um daran zu wachsen.
Als bestes Kinderbuch wurde von Ali Benjamin „Die Suche nach Paulie Fink“ (Hanser-Verlag; Übersetzung aus dem Englischen: Jessika Komina und Sandra Knuffinke) ausgewählt. Die nicht anwesende amerikanische Autorin wurde von den beiden Übersetzerinnen vertreten. In dem spannend und virtuos mit verschiedenen Textsorten erzählten Roman geht es um einen verschwundenen Jungen, aber auch um das Thema Schulgemeinschaft und die Rolle jeden Schülers und jeder Schülerin darin.
Für mich am spannendsten ist, weil ich mich hier am besten auskenne, immer die Sparte Jugendbuch. Bis auf ein Buch, das ich nicht gelesen hatte („Malagash“ von Joey Comeau), ein weiteres, das ich abgebrochen hatte („Sanctuary“ von Abby Sher & Paola Mendoza), waren mir alle bekannt. Vermutet hatte ich ein Rennen zwischen Kirsten Boies „Dunkelnacht“ und Alison McGhees „Wie man eine Raumkapsel verlässt“. Durchgesetzt hatte sich bei der Kritikerjury dann in der Tat Kirsten Boies „Dunkelnacht“ (Oetinger-Verlag) – eine für mich durchaus nachvollziehbare Wahl, denn der Wucht dieses dunklen Buchs über ein dunkles Kapitel am Ende des Zweiten Weltkriegs kann man sich kaum entziehen. Die Sinnlosigkeit des Krieges, die darin deutlich wird, ist natürlich auch ein Thema, das alle Menschen angesichts des Ukraine-Krieges derzeit bewegt und beschäftigt – diesbezüglich ist die Wahl ebenso verständlich, auch wenn damit mein Herzensbuch von Alison McGhee, das erzählerisch innovativ ist, nicht zum Zuge kam. Ihm blieb aber noch die Chance, der Doppelnominierung wegen bei der Jugendjury ausgewählt zu werden …
Doch zuvor wurde noch das prämierte Sachbuch vorgestellt: Den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 hat Bianca Schaalburg für „Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse“ (avant-Verlag) verliehen bekommen – eine autobiografische und sehr persönliche Spurensuche in der nationalsozialistischen Vergangenheit der eigenen Familie. Auf der Bühne erläuterte die Autorin welche Auswirkungen das auf ihre Familie hatte: dass sie vor allem mit ihrem Sohn viel gesprochen habe. Auch hier muss man unweigerlich an den Ukraine-Krieg denken, wo sicher eines Tages viel aufzuarbeiten sein wird: Kollaboration, Verschwörung, Mitläufertum, Mitschuld etc.
Auf die Bühne kam dann Dr. Karin Vach, die Vorsitzende der Kritikerjury, und begründete die Auswahl der vier Preisbücher. Der zentrale Satz dabei war: „Die Preisbücher erzählen kunstvoll, wie Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaften gestaltet werden können und welche Rolle dabei die Erinnerung spielt.“ Ja, da mag man zustimmen, denn die beiden Bücher über die NS-Zeit sind sicher nicht aus Zufall erschienen und prämiert worden. Sie sind Weckrufe, die allerdings geschrieben wurden, bevor in der Ukraine das eigentlich Unvorstellbare passiert ist. Sie hatten von der Nominierungsentscheidung im Januar 2022 bis zur Prämierungsentscheidung Ende September 2022 eine neue Brisanz erhalten.
Bevor die Jugendjury ihr Preisbuch präsentierte, gab es wieder Vorstellungssketche zu den sechs nominierten Büchern (Fotos davon sind in der Galerie unten zu finden). Und weil vor allem das letzte Buch enthusiastisch vorgestellt worden war, ahnte man schon, was kommen wird: Benedict Wells‘
„Hard Land“ (Diogenes-Verlag) war für die jugendlichen Leser/innen das beste Buch aus dem letzten Jahr – nicht Alison McGhees „Wie man eine Raumkapsel verlässt“. Ein völlig überrascht wirkender Benedict Wells kam auf die Bühne, strahlte alle an, wurde von allen angestrahlt (insbesondere von den Mädchen der Leseclubs) und sagte dann auch noch schlaue Sachen. Darauf angesprochen, dass sein Buch ja eigentlich nicht als Jugendbuch geschrieben und veröffentlicht worden sei, meinte er, dass Grenzen immer künstlich gezogen seien – nicht nur in der Literatur.
Wie immer gab es zum Abschluss noch die Sonderpreise – diesmal aus dem Bereich Illustration. Mit dem Sonderpreis „Neue Talente“ wurde Mia Oberländer für ihre Illustrationen in der Graphic Novel „Anna“ (Verlag Edition Moderne) ausgezeichnet – ein Buch, das sich am Beispiel des Großseins damit auseinandersetzt, was es heißt, nicht der Norm zu entsprechen. Für das Gesamtwerk gewürdigt wurde dann noch der aus der DDR stammende Illustrator Hans Ticha, dessen Werk Sonderpreis-Vorsitzende Dr. Kirsten Winderlich anhand von Illustrationsbeispielen vorstellte. Gefragt, was er denn seinen jungen Illustrationskolleg/inn/en wünsche, antwortete er erst mal überrumpelt: „Was soll ich sagen? Glück!” Das Publikum lachte, aber mit den anschließenden Sätzen deutete er an, dass das Finanzielle für Illustrationen nicht zu unterschätzen sei. Für gute Illustrationen, das war impliziert, werde oft nicht genug gezahlt …
Nach fast zwei Stunden ging es dann ins Foyer zum gemeinsamen Abschlussplausch. Hier stand die letzte Veränderung zu den Vorpandemiejahren an: Statt belegter Häppchen gab es blankes Laugengebäck. Mir wäre es ja lieber gewesen, man hätte stattdessen auf Wein und Bier verzichtet – beides gab es aber weiterhin.
Nach einem langen Buchmessetag mit (von kleinen Lüftungspausen draußen abgesehen) zwölf Stunden ffp2-Maske war ich dann geschafft, lief aber zufrieden zum Bahnhof. Masken – das nur am Rande – hatten auf der Buchmessse nur eine Minderheitenpräsenz – selbst in vollen Hallen und Sälen. Angesichts der derzeitigen Inzidenzen doch verwunderlich …
(Ulf Cronenberg, 22.10.2022)
Und hier die Fotos (durch Draufklicken und dann mit Pfeiltasten kann man sie in Groß durchblättern):
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