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Buchbesprechung: J. M. M. Nuanez „Birdie und ich“

Cover: J. M. M. Nuanez „Birdie und ich“Lesealter 11+(dtv 2022, 279 Seiten)

Es regnet bunte Regentropfen, manche in Regenbogenfarben, einer ist ein symbolisierter Heißluftballoon, und der Regenschirm spannt sich als Buchtitel über zwei Geschwistern auf. Ein poetisches Cover, das schon viel über das Buch verrät. J. M. M. Nuanez hat mit „Birdie und ich“ ihren Debütroman vorgelegt und dafür gleich den Luchs der Wochenzeitung „Die Zeit“ bekommen. Über die junge Amerikanerin erfährt man aber eher wenig: Sie lebt mit Mann und Sohn in den USA, liebt – wie sie auf ihrer Webseite schreibt – Katzen, Pizza und YouTube, außerdem das Gärtnern und Bauen von Miniatur-Dingen.

Inhalt:

Jack, ein Mädchen, und ihr jüngerer Bruder Birdie leben bei Onkel Carl, weil ihre Mutter vor nicht ganz einem Jahr gestorben ist. Onkel Carl ist zwar ein herzensguter Mensch und mag die beiden Kinder, aber er ist nicht gerade der Beste, wenn es ums Organisieren alltäglicher Dinge geht. Weil es bei Birdie zunehmend Probleme mit der Schule gibt – er hat zu viele Fehltage, Birdies schrilles Auftreten missfällt außerdem der Lehrerin –, tritt Onkel Patrick, der im gleichen Ort wohnt, auf den Plan und nimmt die Kinder zu sich.

Jack und Birdie gefällt das gar nicht; sie fühlen sich bei Patrick alles andere als wohl. Zwar gibt es endlich wieder frisches Essen, Patrick führt auch Gespräche mit der Schule, aber er ist ansonsten eher wortkarg und findet vor allem keinen guten Draht zu Birdie und Jack. Empört reagieren die beiden, als ihr Onkel ausgehend von einem Gespräch mit der Lehrerin mit den beiden Kindern loszieht, um für Birdie neue, weniger auffällige Klamotten zu kaufen.

Birdie kleidet sich mit seinen neun Jahren nämlich sehr extravagant: schrill bunt und oft mädchenhaft. Er interessiert sich für Modethemen und näht selbst Sachen, auch schminkt er sich häufig. Seine Mutter und auch Onkel Carl hat das nie gestört, aber für Patrick ist das ein Grund, warum Birdie nicht gerne in die Schule geht: weil er dort oft von Mitschülern gehänselt wird. Onkel Patrick meint es zwar gut, aber Jack und Birdie wollen nur eins: so schnell wie möglich wieder weg von ihm.

Bewertung:

Das ganz besondere Cover von „Birdie und ich“ (Übersetzung: Birgitt Kollmann; amerikanischer Originaltitel: „Birdie and Me“) habe ich zu Beginn ja schon erwähnt – es wurde übrigens vom amerikanischen Buch übernommen, was nicht so häufig vorkommt. Der Kinderroman steht dem Cover, das sei vorab schon mal verraten, in keiner Weise nach und erzählt eine ver- und bezaubernde Geschichte.

Jack und ihr kleiner Bruder Birdie haben einiges mitgemacht; der Tod ihrer Mutter hat sie in ein anderes Leben katapultiert. Ihre Mutter war eine schillernde Person, konnte die Welt zum Leuchten bringen, kannte aber auch dunkle Tage. Das, was hier anklingt, ohne dass es weiter ausgeführt wird, liest sich ein bisschen, als wäre ihre Mutter eine Person mit manisch-depressiven Anteilen gewesen. Jack und Birdie aber haben ihre Mutter in jedem Fall geliebt; bei ihr konnte sich Birdie so verhalten, wie er sein will. Und Birdie ist ein ganz spezielles Kind – ein Kind, das sich seiner Geschlechtsidentität nicht so richtig sicher ist.

Es geht also in dem Buch letztendlich, wenn man eine Schublade aufmachen will, um das Thema Transgender; und die Stärke des Romans liegt unter anderem darin, dass dieses Thema sehr behutsam angegangen wird. Der Begriff Transgender wird nämlich, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, letztendlich nur einmal am Rande von einer Freundin Jacks verwendet. Ansonsten ist Birdie eben Birdie, und wenn er Probleme bekommt, dann rühren die vor allem von einer verständnislosen Umwelt her; Birdie selbst empfindet sich und seine Interessen eigentlich nicht als problematisch und ist mit sich zunächst einmal im Reinen. Doch weil – und auch das zeichnet das Buch gut nach – andere ihn schikanieren und mobben, fragt er sich irgendwann selbst, ob er in Ordnung ist.

Was das Buch ansonsten ausmacht, ist, dass es mit vielen interessanten Figuren bevölkert ist. Janet, Jacks beste Freundin, ist so ein Unikat – sie nimmt kein Blatt vor den Mund, bleibt dabei aber trotzdem rührend. Onkel Carl, eine Seele von Mensch, ist in Rosie verliebt, die ihren Lebensunterhalt mit einen Imbisswagen verdient. Wie die beiden umeinander kreisen, ist eine bewundernswerte und wundersame Liebesgeschichte. Zig Heiratsanträge hat Carl Rosie gemacht, aber sie sagt immer nein. Und als Jack für Carl die ultimative Strategie für den Heiratsantrag ersonnen hat, bei der Rosie gar keine Wahl hat, als endlich ja zu sagen, läuft alles aus dem Ruder (hier kommt der oben erwähnte Heißluftballon ins Spiel). Das sind Szenen, bei denen man nicht anders kann, als mit den Figuren mitzufiebern und mitzuleiden.

Eine schillernde Figur ist Patrick. Bei den Geschwistern kommt er lange schlecht weg; „Birdie und ich“ wäre aber kein Kinderbuch, wenn sich hier nicht was tun würde. Für mich als Leser war Patrick als Onkel auf seine Art von Anfang an sympathisch, weil er sich – wenn auch etwas unbeholfen – um Jack und Birdie gekümmert hat. Doch weil er dabei zu konventionell ist, Birdie nicht in seinem Anderssein unterstützt, kommt das bei den beiden Kindern nicht an. Dass sich da irgendwann was ändert, war zu erwarten, aber es dauert lange – und das ist für die Spannungskurve im Roman gut so.

Wie J. M. M. Nuanez ihren Debütroman erzählt, kann man nur als erfrischend bezeichnen. Jack ist eine sehr aufrichtig und authentisch wirkende Erzählerin, die glücklich sein kann, die leiden kann, die sich besonders um ihren Bruder, aber auch um andere kümmert, die manchmal aber auch an Dingen verzweifelt. Die Rolle als Ersatzmutter für Birdie, die sie irgendwie einnimmt, ist ja auch nicht ganz einfach …

Aus all dem resultiert ein Spannungsbogen, der im gesamten Buch nie Langweile aufkommen lässt: Gut verteilt sind in das Buch kleinere und größere Höhepunkte eingestreut. Eine runde Sache ergibt das alles.

Fazit:

5 von 5 Punkten. J. M. M. Nuanez hat eine Geschichte geschrieben, die davon erzählt, dass Menschen sich verändern können – Ausnahmen gibt es natürlich. Vor allem Jacks und Birdies Onkel Patrick lernt in dem Roman viel dazu. „Birdie und ich“ ist ein Plädoyer dafür, dass man Kinder so sein lassen sollte, wie sie sind, weil das Zu-etwas-anderem-Erziehen sie unglücklich macht – das sieht man gut am Beispiel Birdies, der sich seiner Geschlechtsidentität nicht sicher ist. Für ihn selbst ist das kein Problem; die Probleme resultieren daraus, dass er bei einigen Menschen auf großes Unverständnis stößt.

Für „Birdie und ich“ hat mich vor allem eingenommen, dass der Kinderroman so herzerfrischend geschrieben ist und dass er ein sehr aktuelles Thema leise und still behandelt. Hier wird das Transgender-Thema nicht kämpferisch aufgegriffen, sondern der Roman ist ein einfühlsames Plädoyer; und das tut der sonst oft aufgeheizten Debatte gut. Darüber hinaus lebt das Buch nicht nur von diesem Thema, sondern hat von der Art des Erzählens und von den Figuren her viel zu bieten. Bleibt zusammenfassend zu sagen: Es lohnt sich eindeutig, „Birdie und ich“ zu lesen – und zwar nicht nur für Leser/innen ab 11 Jahren, sondern auch für Erwachsene.

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(Ulf Cronenberg, 11.09.2022)

P. S.: Dass Jack mit ihrem Vornamen einen sonst üblichen Jungennamen trägt, ist eine kleine nette, wohlgesetzte Spielerei am Rande …


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Kommentar (1)

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