Jugendbuchtipps.de

Buchbesprechung: Anna Woltz „Nächte im Tunnel“

Cover: Anna Woltz „Nächte im Tunnel“Lesealter 13+(Carlsen-Verlag 2022, 222 Seiten)

Anna Woltz ist nicht nur, wie es im Buchumschlag steht, eine der Lieblingsautorinnen der Übersetzerin Andrea Kluitmann, sondern auch von mir. Dass das Buch im Zweiten Weltkrieg spielen könnte, kann man angesichts des Covers vermuten – das sind keine modernen Kriegsflugzeuge, die man darauf sieht. Das Cover selbst gefällt mir allerdings nicht so richtig: dunkel, das Mädchen schemenhaft gezeichnet, die Decke wirkt hineinkopiert – allerdings ist das holländische Cover auch nicht die Wucht. Da ist ein Tunnel zu sehen, aber eben kein U-Bahn-Tunnel, in dem ein Großteil der Geschichte spielt …

Inhalt:

Ella ist schwer gebeutelt: Lange Zeit musste sie in der Eisernen Lunge (einer Eisenröhre – Wikipedia-Artikel –, um einen Menschen künstlich zu beatmen) verbringen. Davon ist sie noch immer traumatisiert, sie musste das Atmen erst wieder lernen. Außerdem hat sie ein kaputtes Bein, braucht spezielle Schuhe und kann sich nur hinkend fortbewegen. Mit ihrer Familie, den Eltern und dem 10-Jährigen Bruder Robbie, lebt sie in einer Wohnung in London, doch weil die Deutschen jeden Abend Bombenangriffe fliegen, schlafen sie mit Hunderten von Leuten in einer völlig überfüllten U-Bahn-Station.

Als Ella Quinn kennenlernt, ist sie sofort fasziniert von dem Mädchen. Quinn ist selbstbewusst, trägt Hosen, dazu eine Bluse, auf Ella wirkt sie wie ein Filmstar. Wie sich später herausstellt, ist Quinn vom Landgut ihrer Eltern geflohen, weil sie es dort nicht mehr aushält. Die Grafenfamilie erstickt in ihren Konventionen. In London hofft Quinn anderes zu erleben und nützlich zu sein. Sie will sich am nächsten Tag in einem Krankenhaus vorstellen und dort arbeiten. Aber dort nehmen sie ein so junges Mädchen nicht.

Jay, ein gewiefter Gassenjunge, der sich durchs Leben schlägt, verschafft Quinn einen Schlafplatz in einem noch nicht fertiggestellten Tunnelabschnitt, lässt sie aber dafür zahlen. Bald schlafen dort auch Ella und Robbie. Ella ist einerseits von Jay angetan, andererseits verachtet sie ihn, weil er alles für Geld macht. Dass es dafür einen Grund gibt, weiß Ella jedoch nicht …

Bewertung:

„Wir sind jetzt zu dritt. Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Besser, du weißt das jetzt. Jetzt schon, bevor ich anfange.“ So beginnt Anna Woltz‘ neuer Jugendroman, der im September 1940 in London spielt. „Nächte im Tunnel“ (Übersetzung: Andrea Kluitman; niederländischer Originaltitel: „De tunnel“) erzählt, das ist somit von Anfang an klar, eine tragische Geschichte – aber wie soll es auch anders sein, wenn sich die Geschehnisse in einer Zeit von über ein halbes Jahr dauernden Bombardements deutscher Flugzeuge zutragen. Da das Buch in den Niederlanden 2021 erschienen ist, kann es nicht von den Geschehnissen in der Ukraine ausgelöst worden sein, aber natürlich hat ein Buch über den Krieg, wenn man es derzeit liest, eine besondere Relevanz.

Die ersten Sätze im Buch sind gut gesetzt – das kennt man von Anna Woltz. Dass Ella als Erzählerin überlebt, ist klar, aber ob ihr Bruder Robbie, Quinn oder Jay stirbt, nährt die Spannung – die Auflösung gibt es erst recht spät am Ende. Bis dahin sind die vier Kinder ein interessantes Gespann, weil sie so unterschiedliche Erfahrungen mitbringen. Die selbstbewusste Quinn trifft auf Ella, die unter ihren schlimmen Krankheitserlebnissen leidet und sich langsam ins Leben zurückzukämpfen versucht. Robbie ist ein quirliger und aufgeschlossener Junge, den man einfach mögen muss; Jay schließlich wirkt selbstbezogen und man könnte meinen, dass er andere ausnützt. Doch eigentlich hat auch er sein Herz auf dem rechten Fleck. Daraus resultiert zwischen den vier Figuren eine interessante Dynamik, ein ständiges Hin und Her aus Sich-mögen und Voneinander-genervt-sein.

Was Quinn angeht, so ist sie für meinen Geschmack allerdings zu selbstbewusst angelegt. Man kann sich kaum vorstellen, dass es während des Krieges ein Mädchen gibt, das vom Landsitz der eigenen Familie mit einer Tasche voll Juwelen ausbüxt, nach London abhaut, dort im Krankenhaus arbeiten will und sich alleine durchschlägt. Es sind auch manche Dinge, die Quinn sagt, die mir übertrieben vorkommen. Wenn sie erzählt, dass sie am Abend vor der Flucht die Nacht mit dem Stallknecht im Pferdestall verbracht hat – „Wir haben nicht miteinander geschlafen. Kein Sex.“ (S. 97) –, dann klingt das einfach nicht nach 1940. Dass Quinn die Konventionen ihrer Eltern total ablehnt, gerade auch die Geschlechterrollen, Männer als „Pimmel“ bezeichnet – das ist hier und da etwas zu viel des Guten.

Das Problem dabei ist aus meiner Sicht, dass „Nächte im Tunnel“ ja ein historischer Roman ist, und wenn dann Sichtweisen von heute zu stark hineingelegt werden, regt sich bei mir innerlich immer ein wenig Widerstand. Einerseits wird aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt, andererseits werden moderne Botschaften vermittelt, Gefühle und Gedanken von heute hineingetragen.

Lässt man das beiseite, ist der Jugendroman gut geschrieben. Anna Woltz schaut wieder sehr genau in ihre Figuren, kann ihre Gedanken, die Gefühle, das Auf und Ab und Hin und Her darin wunderbar darstellen. Sie zieht ihre Geschichte gekonnt mit einem bewundernswert ausgefeiltem Spannungsbogen auf, der allerdings am Ende noch ein kleines Manko hat: Das Buch ist tragisch, aber der Schluss ist mir einen Tick zu schmalzig geraten. Hier wird das Buch fast missionarisch und will dem Leser was verklickern. Musste das so aufdringlich sein?

Fazit:

4 von 5 Punkten. „Nächte im Tunnel“ ist gut geschrieben, daran gibt es keinen Zweifel, aber verglichen mit den anderen Kinder- und Jugendromanen von Anna Woltz fällt das Buch leicht ab. Das liegt nicht daran, dass der Roman weniger intensiv und weniger einfühlsam geschrieben ist. Nein, das sind weiterhin die Stärken von Anna Woltz. Es ist vielmehr so, dass mir der Roman zu aufklärerisch für einen historischen Roman daherkommt. Ich empfinde es als Dissonanz, wenn die historische Präzision zugunsten einer Botschaft und packender Figuren teilweise aufgegeben werden. Pointiert gesagt: Quinn stammt mir ein bisschen zu sehr aus dem 21. Jahrhundert. Klar, das kann man als schriftstellerische Freiheit ansehen – aber mir persönlich behagt das so nicht.

Jugendlichen Leser/inne/n hätte ich auch noch ein Nachwort gewünscht, in dem der historische Kontext ein wenig erläutert wird. War die Situation in den U-Bahnhöfen zum Beispiel so, wie sie dargestellt wird? Ein bisschen im Internet recherchiert (z. B. dieses Foto aus der Wikipedia) erfährt man, dass die U-Bahn-Stationen damals wirklich als Luftschutzbunker dienten; und auf dem Bild sieht das auch so aus, wie man es sich als Leser/in des Buchs vorstellt: überfüllt, eng, stickig.

Dass „Nächte im Tunnel“ spannend erzählt das Schicksal von Kindern und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg in den Fokus rückt, ist trotzdem zu würdigen – gerade in Zeiten des Ukraine-Kriegs. Von daher sind dem Buch trotz meiner persönlichen Bedenken, viele Leser/innen zu wünschen.

blau.giflila.gifrot.gifgelb.gif

(Ulf Cronenberg, 05.09.2022)

Kommentar (1)

  1. Pingback: Kinder- und Jugendbuch-Geschenktipps für Weihnachten 2022 | Jugendbuchtipps.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert