(Beltz & Gelberg 2022, 477 Seiten)
Zoran Drvenkar war in den Anfangsjahren meiner Jugendbuchbegeisterung fast so etwas wie einer meiner Helden. Bücher wie „Touch the flame“ oder später der autobiografisch angehauchte Erzählband „Die Nacht, in der meine Schwester den Weihnachtsmann entführte“ mit Weihnachtsgeschichten waren temporeich und sprachgewaltig geschrieben. Und dann kamen irgendwelche Schlenker, die Drvenkar andere Geschichten schrieben ließen, mit denen ich nicht so viel anfangen konnte. Von „Wir. Die süßen Schlampen“ hatte ich jedoch Positives gehört – ein neuer Versuch war an der Zeit.
Inhalt:
Fünf Mädels, die gerade ihren Realschulabschluss gemacht haben: Stinke, Rute, Schnappi, Nessi und Taja – das sind natürlich nur ihre Spitznamen. Zart besaitet sind die fünf nicht, nein, sie lassen es ordentlich krachen. Und als Taja von der Bildfläche verschwindet, nicht auf Anrufe reagiert, sich nicht von sich aus meldet, machen sich die anderen große Sorgen. Nach mehreren Tagen erhalten sie schließlich von Taja eine SMS, deren Text gerade noch verständlich und lakonisch „kmt“ heißt. Und keine der anderen vier zögert eine Sekunde, obwohl es mitten in der Nacht ist und sie gerade zum Teil selbst im Schlamassel stecken, und sie machen sich auf den Weg zu Tajas Zuhause.
Was sie dort vorfinden, ist jedoch nicht Taja, sondern deren Vater Oskar. Der sitzt übel zugerichtet auf einem Liegestuhl im Garten der luxuriösen Villa und braucht dringend Hilfe. Es dauert ein bisschen, bis die vier Mädchen vom ihm erfahren, was passiert ist. Taja ist unter Drogeneinfluss auf ihren Vater losgegangen, hat ihn angegriffen und am Ende die Treppe heruntergestoßen.
Warum Taja das gemacht hat, erzählt Oskar nicht, die Mädchen bekommen nur fadenscheinige Begründungen. So geht die Suche nach Taja weiter und auf was Stinke, Rute, Schnappi und Nessi schließlich stoßen und was los war, damit Taja so ausgeflippt ist, gefällt ihnen gar nicht. Taja ist völlig am Ende. Aber das ist erst der Anfang von einer langen und ziemlich heftigen Geschichte …
Bewertung:
Für zimperliche Leser/innen ist „Wir. Die süßen Schlampen“ ganz sicher nichts – denn es geht in Bezug auf viele Dinge ordentlich zur Sache: Gewalt, Drogen, Sex – also das, was man von einem Thriller, wenn er nicht nur auf der psychologischen Ebene mit der Spannung spielt, erwartet. Das alles ist jedoch schon an der Grenze dessen, was ein Jugendbuch verträgt.
Stinke, Rute, Schnappi, Nessi und Taja haben es jedenfalls faustdick hinter den Ohren, und zugleich sind sie irgendwie in vielem auch naiv. Das ist eine seltsame Mischung, die aber funktioniert. Zwischen den fünf Mädchen gibt es allerdings doch einige Unterschiede. Rute ist vorlaut und kann ihre Klappe selbst in den schwierigsten Situationen nicht halten, Stinke steht ihr da nicht groß nach, Nessi und Schnappi sind deutlich zimperlicher. Und was Taja angeht, so weiß man vielleicht am wenigsten, wofür sie steht.
In das Buch reinzukommen, ist gar nicht so einfach. Der Erzähler bzw. die Erzählerin wechselt jedes Kapitel und mit seinem / ihrem Namen wird jedes Kapitel eingeläutet. Ich hatte jedenfalls die ersten gut 100 Seiten deutliche Schwierigkeiten, die fünf Protagonistinnen auseinanderzuhalten. Außerdem dauert es recht lange, bis die fünf Parallelgeschichten zusammengeführt werden – erst als Taja ihre Dreibuchstaben-SMS absetzt, werden die Figuren zusammengeführt. Neben den fünf Mädchen treten im Laufe des Buchs übrigens noch ein paar andere Figuren als Erzähler in Erscheinung.
So verwirrend die mehrperspektivische Sicht anfangs ist: Sie entpuppt sich bald als genau das Richtige für die Geschichte. Sie bekommt durch diese Erzählweise Tempo, sie lässt einen als Leser immer nur einen Teil des Geschehens erleben, im nächsten Kapitel mit einer anderen Erzählerin oder einem anderen Erzähler wird dann etwas ergänzt. Geschickt gemacht ist auch die zeitliche Verschränkung dieser Erzählebenen, denn oft springt man im nächsten Kapitel noch mal etwas zurück und bekommt Erklärungen für Dinge, die vorher offen oder unklar geblieben sind.
Was das Buch am Anfang noch vermissen lässt, stellt sich nach 150 Seiten ein: Es entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Man kann mit dem Lesen nicht aufhören, weil man wissen will, wie die komplex aufgezogene Geschichte weitergeht – und es werden alle Register gezogen. Die fünf nicht mal volljährigen Mädchen stolpern in großkriminelle Machenschaften rund um Drogen, Prostitution und Frauenhandel. Das ist alles schon ziemlich heftig.
Das, was ich an Zoran Drvenkar früher so geschätzt habe, entfaltet sich auch in „Wir. Die süßen Schlampen“ – da schreibt einer mit großer Sprachwucht. Nicht nur der Plot, auch die Sprache diktiert das Tempo, da gibt es Stakkatosätze und präzise Situationsbeschreibungen, die Winkelzüge in den Gefühlen der Figuren werden ausgelotet – das alles wird wortgewandt präsentiert. „Macht ist eine leckere Sache mit Zuckerguss obendrauf“, sagt Schnappi zum Beispiel (S. 157) … – schön gesagt. Das einzige Manko daran ist, dass die Haupterzählstimmen im Buch nicht unbedingt zu 16- oder 17-jährigen Realschulabsolventinnen passen. Sie sind Kunstfiguren, die auf der Sprachgewalt des Autors konstruiert sind. Aber egal, der Roman ist auch deswegen unterhaltsam, und authentische Stimmen wären für einen temporeichen Thriller zu lahm gewesen.
Fazit:
4-einhalb von 5 Punkten. Da ist er wieder, der alte Zoran Drvenkar, etwas umfänglicher im Buchumfang als in den ersten gelungenen Jugendromanen, aber zurück bei den alten Stärken. Wer die Gewalt- und Drogengeschichten aushält, die ersten 100 Seiten durchhält, der wird mit einer fesselnden Geschichte belohnt, die bis zum Ende nach gut 450 Seiten keine Pausen und Längen kennt, sondern die ein beständiges Actiontempo vorlegt. Die Figuren sind zwar sehr aufs Thriller-Genre hinkonstruiert, sie entspringen in vielem nicht dem realen Leben – aber „Wir. Die süßen Schlampen“ ist kein Gegenwartsroman, sondern ein Buch, das alles hat, was einen packenden Thriller ausmacht.
Klar, wird das Buch auch jüngere Leser/innen finden, der Beltz & Gelberg-Verlag ist jedoch mit seiner Altersangabe „ab 16 Jahren“ sogar mal genauso besonnen wie ich. Zoran Drvenkars neues Buch, dessen fünf Mädchen-Figuren schon in seinem Erwachsenen-Thriller „Du“ vorgekommen sind, ist ein wuchtiges Werk, das sicher nichts für Jugendliteraturpreise ist, das aber seiner Wortgewandtheit und des geschickt aufgezogenen Plots wegen keine billige, sondern gute Unterhaltung bietet. Wer Spannung und Nervenkitzel sucht, der ist hier absolut richtig.
(Ulf Cronenberg, 24.06.2022)
P. S.: Bleibt die Frage, ob das, was in „Wir. Die süßen Schlampen“ passiert, die Wirklichkeit widerspiegelt. Mich hat z. B. mal einfach interessiert, ob Marzahn als Berliner Stadtteil wirklich so gefährlich ist, wie es im Buch steht. In der Wikipedia (Artikel Berlin-Marzahn, Stand: 24.06.2022) steht dazu: „Allerdings gibt es in den letzten Jahren einen vermehrten Zuzug von jungen Leuten, Familien und Migranten, die von dem günstigen Wohnraum, den zahlreichen Grünanlagen und der Sicherheit (Marzahn gehört trotz schlechten Images zu den sichersten Berliner Bezirken) angezogen werden.“ Hm. Dass es in Deutschland Frauenhandel in Bezug auf sexuelle Ausbeutung (auch Minderjähriger) gibt, zeigt eine Statistik. Ob das so wie im Buch ablaufen kann, kann ich nicht beantworten. Ich wüsste jedenfalls gerne mehr darüber, wie viel Zoran Drvenkar hier für sein Buch recherchiert hat und ob da nicht doch eher der packende Thriller-Plot als die Realität die Hauptschablone für die Geschehnisse im Buch geliefert hat.
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