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Buchbesprechung: Alina Bronsky „Schallplattensommer“

Cover: Alina Bronsky „Schallplattensommer“Lesealter 15+(dtv 2022, 190 Seiten)

Es ist ganz schön lange her, dass ich ein Buch von Alina Bronsky gelesen habe. Es war im Herbst 2013, und zwar „Nenn mich einfach Superheld“. Ziemlich genau fünf Jahre davor war ich das erste Mal auf die aus Russland stammende, später in Deutschland aufgewachsene Autorin gestoßen: als ihr Debütroman „Scherbenpark“, obwohl nicht als Jugendbuch veröffentlicht, für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde (den Preis hat damals jedoch Kevin Brooks‘ „The Road of the Dead“ erhalten).

Inhalt:

Maserati. Damit ist kein Auto gemeint, sondern so heißt die Hauptfigur des Roman – dass da Witzbolde nicht um Kalauer herumkommen, dürfte klar sein (und natürlich gibt es eine Figur im Buch, die Maserati mit allen möglichen Automarken-Namen anspricht). Maserati ist 16 Jahre alt, hat die Schule abgebrochen und unterstützt ihre Großmutter, eine kleine Gaststätte zu führen, deren Spezialität gefüllte Teigtaschen sind. Kochen ist Aufgabe der Oma, Maserati kümmert sich um die Gäste und ums Aufräumen im Gastraum, hilft manchmal aber auch in der Küche.

Die Beschaulichkeit des Ortes, die Maserati so schätzt, ist gefährdet, weil die alte Villa am Straßenende verkauft wurde, und nun richten Handwerker alles her, bevor die neue Besitzerfamilie einzieht. Den Familienvater bekommt man nie zu Gesicht, aber die Mutter schaut öfter in der Gaststätte vorbei und stellt sich bald als Annabell vor. Zur Familie gehören außerdem Theo und Caspar, zwei seltsame und verwöhnte Jungen, etwa in Maseratis Alter.

Caspar ist ein Schönling und hat an Maserati ein Narren gefressen, immer wieder sucht er ihre Nähe. Theo dagegen ist eher unnahbar, still, wirkt zurückgezogen, oft depressiv. Maserati spürt, und Annabell bestätigt das in Andeutungen, dass Theo Schlimmes widerfahren ist. Aber auch Theo geht auf Maserati zu, und eines Tages zeigt er ihr ein Schallplattencover, auf dem ein Mädchen abgebildet ist, das fast exakt wie Maserati aussieht. Die Schallplatte ist jedoch so alt wie Maserati … Maserati erschrickt, als sie die LP sieht, tut aber so, als wäre nichts; Theo ahnt jedoch, was es mit dem Cover auf sich hat …

Bewertung:

„-sommer“-Buchtitel gab es im Jugendbuchbereich schon einige – um ein paar Beispiele zu nennen: „Asphaltsommer“, „Eisvogelsommer“, „Stechmückensommer“ oder „Samuraisommer“ … Auch wenn die Idee nicht ganz neu ist: Das ändert nichts daran, dass „Schallplattensommer“ ein gekonnt gewählter Titel ist. Er passt nicht nur gut zum Buch, sondern klingt poetisch, ja, man könnte sagen: musikalisch.

Alina Bronsky siedelt ihre Geschichte irgendwo in Deutschland an – an einem kleinen touristischen Ort an einem See, wohl eher im Norden. Mehr erfährt man nicht. Ich musste immer wieder an die Mecklenburgische Seenplatte denken, aber belegt ist das nicht. Alles an dem Ort ist jedenfalls beschaulich, Maserati und ihrer Großmutter finden dort die Ruhe, die sie gesucht haben; sie scheinen anstrengende Zeiten hinter sich zu haben …

Und damit beginnt auch das Versteckspiel im Buch: Warum lebt Maserati eigentlich zurückgezogen bei ihrer Oma und kümmert sich um sie? Warum hat sie trotz passabler Noten das Gymnasium verlassen? Wo sind ihre Eltern? Wer ist außerdem Lenchen, die die Oma manchmal, wenn sie nicht so ganz klar im Kopf ist, erwähnt? Immer wieder spricht sie Maserati auch mit dem Namen an … Viele Fragen, wenige Antworten – nur ab und zu werden kleine Hinweise in die Geschichte eingestreut. Die Großmutter und auch Maserati verbindet, dass sie über all das nämlich nicht reden wollen; und dass Caspar und Theo in Maseratis Leben treten und viele Fragen stellen, passt dem Mädchen gar nicht.

Maserati fühlt sich dadurch in die Ecke gedrängt, und was daraus resultiert, sind interessante Figurendynamiken. Caspar und Maserati kreisen zum Beispiel umeinander, sind voneinander – ohne es sich so richtig einzugestehen – fasziniert; aber beide wissen nicht, ob das gut für sie ist. Maserati zeigt Caspar jedenfalls oft die kalte Schulter, kanzelt ihn ab, lässt ihn stehen, obwohl sie ahnt, dass er vielleicht doch nicht so verkehrt ist, wie sie befürchtet. Mit Theo ist es ebenfalls kompliziert: Seine Mutter macht sich große Sorgen um ihn, erhofft von Maserati, dass sie ihn aufrichtet – aber Maserati ist sich nicht sicher, was sie davon und von Theo halten soll. Verzwickt wird alles zusätzlich, weil ihr früherer Klassenkamerad Georg, der taub ist, in Maserati verliebt ist. Maserati weiß jedenfalls nicht, was sie für wen empfinden soll.

Die Geschichte in „Schallplattensommer“ wird eher schlaglichtartig erzählt: Die Begegnungen zwischen den Figuren sind knapp gehalten; es gibt keine langen Dialoge, aber sie sind meisterhaft umrissen, in den wenigen Sätzen schwingt viel mit. Das gilt letztendlich für das ganze Buch, das sich nie in ausführlichen Beschreibungen verliert, sondern mit wenigen Pinselstrichen eine anrührende Geschichte skizziert, die viel von Wehmut und dahinterstehendem Schmerz aus bisherigen Erfahrungen begleitet wird. Erinnert hat mich diese Stimmung, die Alina Bronsky hervorruft, an skandinavische Autoren – an Bücher wie z. B. Håkan Nessers „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“. Ist es Zufall, dass in beiden Büchern ein See eine wichtige Rolle spielt? Seen gelten ja durchaus als Symbol für in der Tiefe verborgene Geheimnisse …

Wer erhofft, dass am Ende alle Fragen, die man im Laufe des Buch stellt, beantwortet sind, wird enttäuscht sein – viele Antworten bleiben oberflächlich wie im Fall von Maseratis Mutter. Doch genau das macht „Schallplattensommer“ aus: Es lässt Leerstellen, es bleiben Geheimnisse, die der/die Leser/in füllen darf. Manchmal ist genau das die hohe Kunst eines Romans, und „Schallplattensommer“ beherrscht sie sehr gut …

Fazit:

5 von 5 Punkten. Wie kommt man auf so eine Geschichte? Ich habe da immer wieder gestaunt … Mich hat sie jedenfalls schon nach wenigen Seiten gepackt und bis zum Ende nicht mehr losgelassen. „Schallplattensommer“ ist eine im positiven Sinn bizarre Geschichte, die zum einen auf eine ungewöhnliche Art erzählt wird, zum anderen ihrer sperrigen Figuren wegen gefällt. Maserati ist eine eigenwillige Figur: verletzt, verletzbar, verletzend – und trotzdem sympathisch. Sie bleibt einem nicht nur wegen des ungewöhnlichen Namens im Gedächtnis.

Ab 14 Jahren würde ich – anders als der Verlag – das Buch dann doch nicht empfehlen, eher ab 15 oder 16 Jahren, und durchaus auch Erwachsenen. „Schallplattensommer“ ist kein typisches Jugendbuch, nein, es ist einfach ein guter Roman, den man weiterempfehlen kann. Das erschließt sich Leser/inne/n insbesondere noch mal, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist – denn das Ende des Romans ist bravourös inszeniert. Warum? Das müsst ihr leider selbst in Erfahrung bringen …

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(Ulf Cronenberg, 22.04.2022)


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Kommentar (1)

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